Engelsgesang
er etwas zu Essen und zu trinken für sie aus der Küche geholt hatte, und sie sich noch zwei- oder dreimal geliebt hatten, war Ángel neben ihm eingeschlafen.
Mittlerweile war es dunkel geworden.
Bilder eines nackten männlichen Körpers gaukelten wieder und wieder durch Martins Kopf, wollüstige Bewegungen vollführend, sich anbietend und doch voller unwissender Unschuld …
Mit langsamen Bewegungen griff er nach der Zigarettenschachtel, die auf seinem übervollen Nachttisch lag. Die helle Flamme des Feuerzeuges ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Tief inhalierte er den Rauch, hielt ihn einige Sekunden in der Lunge, bevor er ihn senkrecht zur Decke blies.
Er hatte sich diese Sache hier, in seinen Gedanken und Träumen, die ihn die letzten Wochen gequält hatten, völlig anders vorgestellt. In seiner Fantasie hatten gewalttätige Szenen die Oberhand gehabt. Szenerien der Unterwerfung und Machtausübung. In der Realität aber …
Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah dem Rauch hinterher, der sich unter der dunklen Decke zu Nebelschwaden sammelte, die sich nur allmählich auflösten.
Mittlerweile konnte er sich nicht mehr vorstellen, Ángel Gewalt anzutun. Als er ihn, seiner Fantasie folgend, an die Wand gepresst hatte, und Ángel fast ausgetickt war, hatte er schon befürchtet, dass dies das Ende ihrer frischen Beziehung wäre. Er hatte die Angst in Ángels Augen gesehen. Die Panik, die dicht unter der Oberfläche lauerte, und darauf wartete, hervorzubrechen. Er hatte es nicht riskieren wollen, dies zu provozieren. Er hatte keine Ahnung, was der Auslöser gewesen war, noch wusste er, wieso Ángel so reagiert hatte. Doch eins wusste er: Er wollte diesen schrecklichen Ausdruck nie wieder auf Ángels Gesicht sehen. Er wollte ihm nichts antun, was er selbst nicht wollte … früher vielleicht, ja, früher war es ein nettes Spiel, eine aufregende Fantasie gewesen … aber jetzt … heute … wollte er etwas anderes. Er spürte, dass dies kein Spiel mehr war. Es war viel mehr …
Ein kleines Lächeln huschte bei einer Erinnerung, die sich wie ein Farbfilm in seinem Kopf abspielte, über sein Gesicht. Niemals hatte er geglaubt, dass es ihm so wenig egal war, was jemand anderes dachte und fühlte. Es war eine fremdartige Erfahrung gewesen, mit jemanden intim zu werden und viel mehr als nur reine Befriedigung zu erlangen. Es war völlig anders gewesen, als sonst, wenn er mit irgendwelchen Mädchen vögelte …
Etwas hatte heute sein Herz gepackt und tiefe Wurzeln hineingeschlagen. So tief hinein, dass er nicht sicher war, ob er sie jemals wieder, ohne Schaden zu nehmen, entfernen konnte. Er hatte heute das erste Mal diesen Wunsch nach Verbundenheit und Vertrauen gespürt und eine seltsame Art von Seelenverwandtschaft. - Er lachte auf und verstummte augenblicklich, als seine Stimme in dem dunklen Zimmer widerhallte. - Ja, er konnte es selber nicht glauben. Vor einem halben Jahr hätte er über so etwas wie ‚Seelenverwandtschaft’ noch Witze gemacht. Doch heute fiel ihm kein Wort ein, das besser gepasst hätte.
Er drehte sich um und drückte die halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. Sein Blick blieb an Ángel hängen, dessen helle Locken ausgebreitet auf dem roten Kissen lagen. Aufmerksam studierte er die Gesichtszüge, die wie gemeißelter Marmor im Licht der Hifi-LEDs leuchteten.
Er hatte gedacht, dieses Gesicht schon in jeder Einzelheit zu kennen. Unendliche Male hatte er es gemalt und doch konnte er, nun, wo er ihn so dicht vor sich hatte, immer wieder Neues darin entdecken.
Kurz zuckte Ángel, in einem Traum gefangen, zusammen. Sein Gesicht verzog sich voller Angst. Er öffnete die Lippen und ein undeutliches Gestammel erklang, bittend, eindringlich. Beruhigend legte Martin seine Hand auf Ángels Schulter. Doch diese Berührung schien es noch schlimmer zu machen. Ángel begann sein Kopf herumzuwerfen. Unter den zarten Lidern rollten die Augäpfel wie wild hin und her. „Nein! Bitte nicht!“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Wach auf, Angel! Du träumst! Du hast einen Albtraum!“ Martin schüttelte ihn und mühsam, als müsse er sich aus diesem klebrigen Traum herauskämpfen, öffnete Ángel die Augen. Einen Moment brauchte er, bis er sich bewusst war, wo er sich befand, dann glättete sich sein Gesicht. Mit einem Lächeln auf seinen Lippen flüsterte er: „Martin.“
Dieses so sanft gehauchte Wort stach Martin ins Herz, und er vergaß für ein paar Sekunden,
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