Engelsgesang
Atem zu holen. Er musste sich räuspern, um seine Stimme wiederzufinden.
„Du hast nur geträumt. Geht es dir gut?“
Ángels Gesicht verfinsterte sich. „Hab ich was gesagt?“
„Nein, du hast dich nur herumgewälzt.“
Ángels Gesichtszüge glätteten sich. Erleichtert streckte er seine Hand aus und zog Martin in eine warme, nach Schlaf duftende Umarmung. Eng umschlungen und träge gaben sie sich noch einmal ihrer Lust hin. Sie liebten sich langsam, mit schläfrigen Bewegungen, voller Vertrauen und ohne Hast, so als würde die Zeit für sie still stehen.
Als Ángels Atemzüge wieder gleichmäßig und leise wurden, starrte Martin erneut, mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, zur Decke hinauf.
Ob es jetzt immer so sein würde?
Er hoffte es. Denn genau das war es, was er, ohne es zu wissen, die ganze Zeit vermisst hatte.
39.
39.
Martin hätte nicht sagen können, was ihn aufgeweckt hatte. Die schwarzen Vorhänge sperrten jedes Licht aus, das der Tag hätte herein senden können.
Das Bett neben ihm war leer.
Erschrocken richtete er sich auf und sah sich um. Auf dem Boden lag Ángels Kleidung und erleichtert lehnte er sich mit einem Aufatmen zurück. Er hatte doch wirklich für eine schreckliche Sekunde geglaubt, dies alles nur geträumt zu haben. Er sprang aus dem Bett, zog seine Bondagehose über und trat auf den Flur hinaus. Die Tür zum Atelier stand offen. Leise trat er näher und lehnte sich an den Türrahmen.
Ángel stand mitten im Raum. Er trug den teuren Bademantel aus schwarzer Seide, der im Bad gehangen hatte. Verwundert nahm Martin dieses Kleidungsstück an ihm wahr. Er hatte ihn zu Weihnachten von seinen Eltern geschenkt bekommen, ihn aber selbst nie getragen. Er würde ihn Ángel schenken. Er konnte sich nicht vorstellen, auch nur halb so gut darin auszusehen wie er.
Dass alle Gemälde im Atelier abgedeckt oder umgedreht waren, so dass man sie betrachten konnte, bemerkte er erst nach einer Weile. Viele von ihnen, ach was, eigentlich fast alle, zeigten den blonden Jungen, der jetzt vor ihnen stand und sie musterte. Die meisten Bilder waren schnell hingeworfene Skizzen, doch an einigen hatte er schon länger gearbeitet, so dass feine liebevolle Details erkennbar waren.
„Und?“, fragte Martin leise. „Erschrecke ich dich damit?“
Ohne sich umzudrehen, antwortete Ángel: „Nein. Man merkt, dass du dich viel mit der Person auf den Bildern beschäftigt hast. Du musst sie mögen.“
„Ja, das tue ich“, sagte Martin, ohne zu zögern.
„Du schmeichelst mir mit diesen Bildern. Du hast mich schöner gemalt, als ich in Wahrheit bin.“
„Nein, das habe ich nicht. Ich habe nur gemalt, was ich sehe.“
Ángel drehte sich zu ihm um und Martin hatte das Gefühl, einen Sonnenaufgang zu betrachten. Er entgegnete das Lächeln des anderen, ohne es zu merken. Dieses Lächeln war eines von vielen, das sich ab jetzt öfter auf sein sonst so düsteres Gesicht legen sollte.
„Was hältst du davon, nach Italien zu fahren? Wir haben am Gardasee ein Ferienhaus. Sonne, Wasser, gutes Essen, la dolce Vita. Was denkst du?“ Kurz hielt Martin inne, als müsse er darüber nachsinnen, was gerade über seine Lippen gesprudelt war. Doch dann sprach er weiter: „Ich habe diese Woche nichts mehr vor. Wie steht’s bei dir?“
Das Lächeln blieb auf Ángels Lippen, als er antwortete: „Das würdest du mit mir machen? Ich war noch nie in Italien.“
„Na, dann lass uns doch gleich losfahren, was hindert uns daran?“
„Nichts!“ Ángel strahlte. „Ich bin bereit. Kann ich noch schnell jemanden anrufen?“
„Klar. Nimm das Telefon in meinem Zimmer. Du findest es auf dem Nachttisch, hinter dem CD-Stapel.“
Während Martin im Bad verschwand, ging Ángel in das schwarz getünchte Zimmer. Als er die dichten Samtvorhänge aufriss, tanzten Staubpartikel im Sonnenlicht. Er trat an ein Regal, das mit Büchern voll gestopft war und fuhr mit den Zeigefinger über die Buchrücken. Necroscop – mit diesem Titel konnte er nichts anfangen, obwohl an die zwanzig Bände da standen. Ob das irgendein Klassiker war, den er eigentlich kennen sollte? Sein Blick schweifte über eine große Auswahl nietenbesetzter, mit Ketten verzierter Gürtel, die an der Seite des Schrankes hingen, glitt über die Poster an den Wänden, die düstere irreale Landschaften zeigten und blieb dann an dem überladenen Nachtschränkchen hängen. Nachdem er zwischen umgefallenen CDs, Musikzeitschriften und Kleenexpackungen
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