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Engelsgesang

Engelsgesang

Titel: Engelsgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.A. Urban
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hörte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete und jemand eintrat. Leise Schritte gingen durch den Raum. „Guten Morgen, wie ich sehe, haben wir mal wieder ein Model. Sehr schön.“ Die tiefe weibliche Stimme, die den Studenten Anweisungen zu geben begann, überraschte Ángel. Der Professor war also eine Frau. Na gut, warum auch nicht? Er sah weiterhin aus dem Fenster und wartete, dass die Professorin in sein Blickfeld treten würde. Die Stimme klang nach einer Frau mittleren Alters.
    „Die Muskelpartie hier im Schulterbereich sollten Sie noch etwas besser ausarbeiten. Schauen Sie, ein bisschen Schraffur bewirkt da enorm viel“, hörte er sie schräg hinter sich auf einen Studenten einreden. Dann lief sie weiter und er konnte ihre Gestalt zwischen den Staffeleien kurz erhaschen. Sie war klein, fast knabenhaft. Die Zierlichkeit ihres Körpers passte nicht zu ihrer kräftigen, tiefen Stimme. Doch das auffälligste an ihr war die Wolke roten Haars, die sich über ihren Rücken ergoss.
    „Schauen Sie. Sie müssen die Linie der Leistengegend exakt wiedergeben, genau so, sehen Sie den Schwung? Sonst geht die ganze Lebendigkeit verloren.“
    Diese Worte jagten Ángel einen Schauer über den Rücken. Er konnte sich genau vorstellen, auf welchen Teil seines Körpers die Augen der Anwesenden jetzt gerichtet waren. Er war froh, als die Viertelstunde endlich um war und er sich auf den Boden legen konnte. Er nahm eine Seitenposition ein, bei der er seinen intimsten Körperteil mit dem Oberschenkel abdecken konnte. Den Kopf legte er bequem auf dem Arm ab, dann schloss er die Augen.
    Zuerst hörte man das Rascheln der Blätter, dann begannen die Bleistifte wieder über das Papier zu kratzen. Als er die Anwesenheit eines Menschen über sich spürte, schlug er die Augen auf. Das ebenmäßige kühle Gesicht einer Frau sah auf ihn herab. Der stahlgraue Blick aus ihrem alterslosen Gesicht gab einen seltsamen Kontrast zu dem feuerroten Haar, das sie umwallte.
    Während sie ihre Unterschrift auf das Formular kritzelte, sagte sie gedehnt: „Herr van Campen, also.“ Ihre seltsam farblosen Augen wanderten zwischen dem Formular und seinem Gesicht hin und her. „Sie sind nicht rein zufällig mit …“
    „Nein, bin ich nicht“, unterbrach sie Ángel schnell und schämte sich augenblicklich dafür. „Verzeihung“, versuchte er sich zu entschuldigen, „aber das fragt man mich hier ständig.“
    „Das kann ich mir vorstellen.“ Ihre kalten Augen sahen ihn abschätzend an. „Schade, dass Sie es nicht sind. Ich hätte meinen Studenten sonst einen Verwandten des bekanntesten noch lebenden Vertreters der Lyrischen Abstraktion, Gabriel van Campen, vorstellen können. Die Lyrische Abstraktion, meine Damen und Herren“, begann die Professorin in einem routinierten Erzählton, „ist ein Zweig der Malerei, der seinen Höhepunkt Mitte des 20. Jahrhunderts hatte. Ja, sicher denken Sie jetzt: das ist ja schon eine Weile her. Da haben Sie auch Recht. Gabriel van Campen ist der Begründer einer neuen Abspaltung, die ‚heiße Abstraktion’ genannt wird. Sie ist heftig umstritten. Sie ist jedoch eindeutig die minimalistischste Malerei mit sexistischer Aussage.“
    Die Studenten hatten mit dem Zeichnen aufgehört und lauschten den Erörterungen ihrer Professorin. Ángel dagegen schloss die Augen und versuchte das gleiche auch mit seinen Ohren zu machen, was ihm aber deutlich misslang.
    „Schauen Sie sich diesen schönen jungen Mann hier an. Die heiße Abstraktion würde ihn als blutigen Hackfleischhaufen auf die Leinwand bannen. Sehr fragwürdig, aber doch so provokant, dass man nicht wegsehen kann, selbst wenn man wollte. So provozierend, dass man Gabriel van Campen und seine Kunst einfach nicht ignorieren kann, egal was man von ihm oder seinen Werken halten mag. Ein Künstler, der es geschafft hat, allen Widerständen zu trotzen und seinen, von ordinären Geschlechtsmerkmalen gepflasterten Weg, hoch erhobenen Hauptes entlang zu stolzieren.“
    Übelkeit stieg in Ángel hoch, so dass er sich aufsetzen musste. Er hielt das nicht mehr aus. Er wollte nichts über Kunst mit Hackfleischhintergrund und erst recht nichts von seinem Vater hören. Er war nicht vor ihm geflüchtet, um sich an einer Kunstakademie Vorträge über sein exzellentes Können und seine krankhafte Malweise anzuhören.
    Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf und lief hinter den Paravent. Hier zog er sich blitzschnell seine Kleidung über und rannte, mit offenen, Hemd, zur Tür

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