Engelsgesang
aus.
4.
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Wieder fuhr er schwarz. Das wenige Geld, das er noch hatte, wollte er nicht für so unnötige Dinge wie Fahrkarten ausgeben. Bei der Universität stieg er aus und suchte sich in dem großen Gebäude den Weg ins Sekretariat.
„Als Aktmodell wollen Sie sich vorstellen?“, fragte ihn die Frau hinter dem Tresen und schaute über ihre schmale Brille. „Haben Sie das schon mal gemacht?“
„Nein“, antwortete Ángel wahrheitsgemäß.
„Das macht nichts. Sie könnten gleich heute zehn Uhr in Raum E.O2.21. anfangen. Wäre das in Ordnung?“
„Bestens“, entgegnete Ángel überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es heute schon losgehen würde. Sofort breitete sich eine unangenehme Nervosität in ihm aus.
„Wenn Sie fertig sind, gehen Sie zu der Zahlstelle im Nebengebäude und geben diesen Zettel, den Sie vorher von Professor Jugan unterschreiben lassen, dort ab und bekommen dann das Honorar. Für eine Unterrichtsstunde bekommen Sie einundzwanzig Euro.“ Kurz hielt sie inne und sah Ángel an. Als dieser leicht nickte, fuhr sie fort. „Jetzt brauch ich noch Ihren Namen und Anschrift.“
Kurz zuckte der Gedanke, einen falschen Namen anzugeben durch seinen Kopf, aber er entscheid sich dagegen. Er wollte sein neues Leben nicht auf einer Lüge aufbauen. Es war nun mal sein Name und er würde ihn, egal aus welchen Gründen auch immer, nicht ändern. Also sagte er mit möglichst fester Stimme: „Angel van Campen. Über dem A des Vornamens bitte ein Apostroph.“ Heute benutzte er die englische Aussprache seines Namens, er hatte keinen Bedarf mehr, Erklärungen abzugeben.
Während die Frau schrieb, fragte sie, ohne den Blick zu heben: „Sind Sie mit Gabriel van Campen verwandt?“
Ángel hatte die Frage erwartet, trotzdem versetzte ihm dieser Name einen Stich.
„Nein, bin ich nicht“, erwiderte er schnell. Er hoffte, dass seine Antwort nicht zu übereilt erfolgt war. Glücklicherweise schien die Frau nichts zu bemerken und ließ es darauf beruhen. Sie reichte ihm das Formular über die Theke. „Vergessen Sie nicht, es unterschreiben zu lassen.“
„Werde ich nicht, danke schön.“ Ángel nahm es an sich und machte sich in dem großen Gebäude auf die Suche nach dem beschriebenen Raum. Er konnte nicht sagen, dass ihm die Begegnung mit den Studenten und dem Professor Angst bereitete, unwohl fühlte er sich in dieser Umgebung trotzdem.
Nachdem er sich einige Male durchfragen musste, erreichte er endlich den Raum E.O2.21, bei dem es sich um eine Art großzügigen Wintergarten mit langer Fensterfront handelte. Um ein erhöhtes Podest standen Staffeleien herum. Etwa zwanzig Studenten befanden sich in dem Saal und sortierten gerade ihre Malutensilien.
„Hallo“, sagte Ángel. „Ich bin das Model.“
Ein kurzhaariges Mädchen kam auf ihn zu. „Du kannst dich dort hinter dem Paravent ausziehen, dann kommst du hier auf das Podest. Professor Jugan kommt immer mitten in der Stunde. Wir fangen schon ohne sie an.“
Etwas befangen stellte sich Ángel kurze Zeit später vor die Staffeleien. Es war ein seltsames Gefühl, nackt da zustehen und alle Augen auf sich zu wissen.
„Wenn du magst, setzt dich erst einmal hin“, sagte das Mädchen, das seine Unsicherheit zu spüren schien. „Normalerweise wechseln die Modelle alle fünfzehn bis zwanzig Minuten die Pose. Schaffst du das?“
Ángel nickte.
„Gut. Ich gebe dir Bescheid, wenn es so weit ist.“
Ángel setzte sich auf den Boden des Podestes und machte es sich möglichst bequem. Er stellte beide Beine auf und legte seine Stirn auf die Unterarme, die er verschränkt auf den Knien ablegte. Nun musste er die Studenten wenigstens nicht mehr sehen. Die Minuten schlichen dahin, die Stifte kratzten auf den Blättern und zeigten an, dass eifrig gearbeitet wurde. Allmählich fiel das Gefühl, beobachtet zu werden von ihm ab. Natürlich wurde er noch beobachtet, dessen war er sich bewusst, und deshalb war er ja auch hier. Doch das Wichtigste war, dass er nachher Geld dafür bekommen würde. Sein erstes Geld … einen besseren Start hätte er sich wirklich nicht wünschen können. Erst die Begegnung mit Wolfgang und jetzt dieser Job. Er hatte wirklich Glück.
Das Mädchen tippte ihm kurz auf die Schulter. Ángel stand auf und nahm eine Pose ein, bei der er aus dem Fenster in den sonnenüberfluteten Hof schauen konnte. Die kurze Bewegung tat ihm gut. Allmählich begannen seinen Muskeln, durch die lange Bewegungslosigkeit, zu schmerzen.
Er
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