Engelsgesang
damals für ein Theater gemacht haben, als ich mich in Chicago beworben habe. ‚Das hast du doch gar nicht nötig’, hat meine Mutter gesagt. ‚Du hast bei uns doch alles, was du brauchst.’ Und als dann die Zusage kam, hat mir mein Vater sogar Geld geboten. Kannst du dir das vorstellen? Geld, nur dafür, dass ich in Deutschland bleibe … Also mach dir wegen meinen Alten mal keine Sorgen. Mit denen werde ich fertig.“
„Ich bewundere dich. Deine Stärke, wie du mit ihnen umgehst …“
„Ach, ich bin nicht stark. Sie sind nur schwach“, sagte Martin und lächelte in die Sonne.
Am Abend saßen sie in einem kleinen Ristorante an der Uferpromenade des Gardasees. Ángel sah über den Rand seiner Espressotasse hinweg zum Himmel. „Es wird einen Sturm geben. Ich glaube, wir sollten gehen.“
Gewitterwolken zogen am Horizont auf und verdeckten die untergehende Sonne. Der böige Wind zerrte an den weißen Tischdecken und die Kellner eilten umher und sicherten die weit ausladenden Sonnenschirme.
„Das wird ein sattes Gewitter, was da aufzieht.“ Martin hob die Hand und gab einem Kellner das Zeichen. Der Wind wirbelte durch sein Haar und er bändigte es ungeduldig mit einem Haargummi, den er aus der Hosentasche zog.
„Ich möchte dir noch etwas geben.“ Er schob einen Briefumschlag zu Ángel herüber und wartete, bis dieser seine Hand draufgelegt hatte, damit der Wind ihn nicht ergriff. „Morgen ist unser letzter Tag hier. Ich dachte mir, es würde dir gefallen, mit mir noch einmal auszugehen.“
„Müssen wir schon wieder zurück? Können wir nicht noch ein bisschen bleiben?“ Ángel nahm den Umschlag in die Hand und drehte ihn abwesend zwischen den Fingern.
„Ich würde auch gern länger bleiben, aber ich habe Valerie versprochen, zur Eröffnung ihrer Vernissage zu kommen. Sie zählt auf mich.“ Martin starrte einen Fleck auf dem Tischtuch an.
„Die Vernissage, ja, ich hätte sie fast vergessen …“
Zwischen ihnen breitete sich eine unangenehme Stille aus.
„Wenn Valerie ruft, rennst du, oder?“ Ángel sagte diese Worte ohne Vorwurf. Sie klangen eher wie eine traurige Feststellung.
„Früher einmal, ja. Doch das wird sich ändern. Nach der Ausstellung werde ich nicht mehr zu ihr gehen. Und wie steht’s mit dir?“
„Ich brauche den Job bei ihr. Ich habe sonst kein Geld.“
„Ich meine nicht die Fotos. Ich meine …“ Martin sah so aus, als müsse er einen inneren Kampf austragen. Das Aussprechen der nächsten Worte fiel ihm unheimlich schwer. „Du weißt schon, was ich meine!“, brach es aus ihm heraus. „Ich weiß, was sie für Dinge tut und ich weiß, welche Macht sie über Männer hat. Ich habe es selbst erlebt. Ich möchte nicht, dass du … Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du mit ihr …“ Wieder vollendete er den Satz nicht, sondern sah stattdessen zu den aufziehenden Wolken hinauf.
„Ich habe nichts mit ihr ...“, flüsterte Ángel. „Ich habe das erzählt, weil ich dich eifersüchtig machen wollte. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat, so etwas zu behaupten. Wir haben nur zusammen gearbeitet.“
„Du wolltest mich eifersüchtig machen?“ Martin sah ihn an und legte seine Hand auf die Ángels und lachte. „Du weißt ja nicht, wie glücklich du mich mit dieser Aussage machst.“ Als er Ángels Miene sah, fügte er jedoch hinzu: „Hingehen müssen wir trotzdem. Keine Widerrede! Ich schau mir deine Fotos an und du dir meine … es wird ein lustiger Abend. Wir werden Spaß haben.“
„Wenn du das sagst!“
„Ja, ich sage das. Ich kenn mich nämlich aus mit so was, musst du wissen.“
„Ach ja, tust du das? Dich auskennen?“
Sie lächelten sich an und ihre Gesichter begannen, bei den Gedanken, die ihnen durch den Kopf schossen, zu glühen.
„Los“, lenkte Martin ein und zeigte auf den verschlossenen Umschlag.“ Jetzt öffne schon meine Überraschung und lenk nicht wieder ab.“
Stumm zog Ángel zwei Eintrittskarten hervor. „Felipe Jaroudas?“, las er mit hochgezogener Braue und sah Martin ratlos an. „Ich danke dir, aber …“
„Ich glaube, ich sollte dir etwas erklären. Ich kenn mich zwar nicht so gut mit dieser Musikrichtung aus, aber hier habe ich mich extra schlau gemacht: Felipe Jaroudas ist ein spanischer Countertenor … ach, was sage ich da? Ich sollte nicht so bescheiden sein, immerhin musste ich alle Hebel in Bewegung setzen, um noch Karten zu bekommen. Also: Felipe Jaroudas ist DER spanische Countertenor. Er ist
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