Engelsgesang
und der Reißverschluss war unwiderruflich ins Nirwana eingegangen.
„Keine Sorge. Ich habe in meinem Zimmer einen ganzen Schrank voll Klamotten. Da wird dir sicher was passen. Such dir aus, was du willst.“ Martin lümmelte auf einer Liege im Schatten. Träge hob er den Kopf und musterte Ángel. „Du kannst haben, was du willst. Ich habe genug von dem Kram.“
Ángel musterte ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. „Ich brauche deine Sachen nicht. Gib mir einfach Nähzeug, dann bekomm ich das wieder hin.“
„Mann, hab dich nicht so, Angel. Ich schenke es dir gern.“
„Ich möchte aber nichts geschenkt haben. Verstehst du?“
Irritiert setzte Martin sich auf. „Ich versteh das nicht, aber okay, wie du willst. Ich leih dir die Sachen, wenn dir das besser gefällt. Gib sie mir irgendwann zurück. Aber Nähzeug … nein, vergiss es … so was gibt es in diesem Haus nicht.“
Ángel staunte, als er in dem riesigen begehbaren Kleiderschrank stand und Martins Garderobe begutachtete. Kaum etwas erinnerte an den düsteren Grufti, mit dem er hergekommen war. Sommerfarben und schlichtes Weiß dominierten.
„Nimm das hier.“ Martin warf ihm eine halblange Hose und ein hellblaues Shirt zu, als er seine Unentschlossenheit wegen der Fülle von Kleidungsstücken bemerkte. Selber entschied er sich für ein schwarzes Tanktop und eine weiße Shorts.
„Meine Mutter würde in Ohnmacht fallen, wenn sie mich so sähe“, sagte er, als er sein Spiegelbild betrachtete. „Sie hasst Tätowierungen.“
„Ich finde sie wunderschön“, sagte Ángel mit einem schüchternen Blick über die Schulter. „Sie passen zu dir.“
„Ach ja? Ich habe sie Valerie zu verdanken. Eins muss man ihr ja lassen … auch wenn sie ein Miststück ist, Geschmack hat sie … Aber eigentlich will ich nicht über sie reden … lass uns heute Abend ausgehen. Erst essen wir in meinem Lieblingsrestaurant, und dann sehen wir uns vom Strand den Sonnenuntergang an.“
„Kann ich vorher … ich müsste … ich habe versprochen …“ Ángel stammelte so herum, dass Martin ihn misstrauisch ansah.
„Was willst du tun? Wir haben Zeit wofür auch immer.“
„Danke … ich muss nur … oh, das ist mir jetzt echt peinlich … ich muss singen …“
„Singen?“
„Ja, ich habe meinem Professor versprochen jeden Tag zu üben. Er würde merken, wenn ich nicht …“
Martin grinste ihn an, während sich sein Gesicht entspannte. „Kein Problem. Ich dachte schon, du hast irgendwelche seltsamen Laster, denen du frönen musst. Ob du’s glaubst oder nicht, wir haben hier sogar ein Musikzimmer. Es liegt im hinteren Teil des Hauses. Wenn du willst, zeig ich es dir. Dort kannst du singen, so laut du willst und ich entspanne mich derweil ein bisschen bei ‚World of Warcraft’.“ Martin zeigte auf einen Computer, der in der Ecke seines Zimmers stand.
„Danke“, flüsterte Ángel.
„Lass dir Zeit, wie gesagt: uns treibt nichts.“
Diesen Satz sollte Martin bedauern. Als Ángel fast drei Stunden, eine halbe Zigarettenschachtel und eine Line Koks später, mit erhitztem Gesicht aus dem Musikzimmer herauskam, ging die Sonne gerade rot hinter den Bergen unter.
42.
42.
„Hängen Sie das Bild hier auf! Nein, nein, nein, dieses Bild! Hören Sie mir überhaupt zu? - Passen Sie doch auf! Sie sind doch nicht auf einer Baustelle!“
Valerie Jugan eilte von einem Raum zum anderen und versuchte, allen Handwerkern gleichzeitig Anweisungen zu geben. Sie wollte, dass die Vernissage perfekt wurde. Sie hatte schon vieles dieser Art organisiert, eigenes und solche von ihren Studenten, sie wusste, worauf es ankam. Am wichtigsten war, dass die Bilder ein perfektes System bildeten und den Besucher von einem Schockmoment zum nächsten führten. Die Gästeliste war das nächste, was nicht zu unterschätzen war. Alle wichtigen Einladungen waren schon vor Wochen verschickt worden, jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass die entsprechenden Kritiker und Journalisten auch kamen. Jedoch auf die Anwesenheit einer Person legte sie dieses Mal besonderen Wert. Normalerweise bekam man nie die Gelegenheit, diese Person bei einer Ausstellung begrüßen zu können. Selten ließ sie sich in der Öffentlichkeit blicken, und noch nie war sie bei einer Vernissage eines kongruierenden Kollegen aufgetaucht. Doch Valerie hatte ein Ass im Ärmel. Sie hatte selbst nicht verstanden, warum ihr dieses Ass einfach so zugesteckt worden war, aber jetzt, wo sie es besaß, würde sie es
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