Engelsgesicht
da wurde ihm bewusst, dass er sich beinahe vergessen hätte. »Entschuldigung, Diana, entschuldige. Aber ich bin eben auch nur ein Mensch. Pfarrer sind nichts anderes. Ich habe es nicht gewollt, aber die Angst um...«
»Schon gut.« Sie rieb ihre Schulter, zog die Nase hoch und wischte über ihre Augen. Dann nahm sie wieder Platz. »So genau weiß ich es auch nicht, Mr. Lintock. Es gibt dieses verdammte Engelsgesicht. Ich habe es gesehen, aber ich kann es nicht fassen, verstehen Sie.«
»Nein.«
»Es ist...«
»Beschreibe es, Diana. Los, raus damit. Gib mir eine Beschreibung. Es kann ja sein, dass ich es kenne.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du musst es trotzdem versuchen«, bedrängte er sie.
»Ich sehe nur ihr Gesicht. Es ist so schön. Es ist so glatt und eben. Völlig entrückt. Und ich sehe ihren Körper, den sie in Blut wäscht. In unserem Blut...«
Lintock konnte sich nicht mehr halten. »Aber du musst doch wissen, wer dir das verdammte Blut abgenommen hat? Wer brachte dir die Schnitte denn bei?«
»Das war sie!«
»Und weiter!«
»Ich schlief doch. Sie kam wie ein Alptraum. Sie war einfach nicht zu hören. Sie durchbrach die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Und dann schlug sie zu.«
»Du hast also im Schlaf geblutet?«, flüsterte Lintock erstaunt. Er konnte es nicht fassen. »Während du geschlafen hast, ist sie gekommen. Das... das glaube ich nicht.«
»So war es bei den anderen beiden auch!«, schrie Diana. »So und nicht anders. Sie hat das Blut gebraucht, um schön zu bleiben. Oder um noch schöner zu werden. Das ist ihr Motiv. Unser Blut gibt ihr die Schönheit oder gibt sie ihr zurück. Ich weiß es nicht.«
Jetzt war es der Pfarrer, der die Hände vors Gesicht schlug und den Kopf schüttelte. Dabei stöhnte er. »Das ist einfach Wahnsinn!«, keuchte er in seine Handflächen hinein. »Nein, das will ich nicht akzeptieren. Und du bist nicht die Einzige?«, fragte er trotzdem.
»So ist es.«
»Wer noch? Nenn mir die Namen! Bitte, ich will Namen hören. Du brauchst keine Rücksicht zu nehmen, Diana.«
»Alle«, gab sie leise zur Antwort und starrte dabei auf einen imaginären Punkt.
»Was heißt alle?«
»Junge Frauen, deren Blut noch nicht verbraucht ist. Damit erhält sie sich die Schönheit. Ich habe mit keinem darüber gesprochen. Sie hätten mir doch nicht geglaubt. Aber zu Ihnen habe ich Vertrauen, Mr. Lintock. Sie haben auch eine Tochter. Sie werden begreifen können, was das alles bedeutet.«
»Ja, ja...«, sagte er nach einer Weile. »Das sollte ich begreifen. Aber ich habe keinen Zugang mehr zu meiner Tochter. Sie geht ihre eigenen Wege. Sie ist in der Nacht oft weg, und so kann es sein, dass dies mit dem verdammten Blut in einem Zusammenhang steht. Ich glaube das sogar, obwohl ich es mir nicht vorstellen kann.«
»Es ist eine andere Macht!«, erklärte Diana. »Eine Kraft, gegen die wir nicht ankommen. Zumindest ich nicht. Vielleicht Sie, Mr. Lintock. Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß. Ich habe Ihnen auch die Beweise gezeigt. Sie müssen mir glauben, dass ich mir die Schnitte auf keinen Fall selbst zugefügt habe. Ich bin keine Masochistin. Es hat alles seinen verdammten Grund. Und es ist noch nicht zu Ende. Das Engelsgesicht braucht Blut, viel Blut...«
Weitere Worte ließ sie unausgesprochen. Sie drehte sich mit einer scharfen Bewegung um und ließ den Pfarrer allein auf der Bank zurück.
Cliff Lintock dachte nicht daran, ihr zu folgen. Er starrte ihr nach, er wollte trotzdem so viel tun, und er war nicht einmal in der Lage, sich zu erheben. Wie festgeklebt saß er auf der Gartenbank, den Blick nach innen gerichtet. Nach einer Weile bewegte er den Kopf. Sein Atem ging schwer. Sein Körper war von kaltem Schweiß bedeckt.
Plötzlich kam ihm die Umgebung bedrohlich vor. Da boten die Bäume keinen Schutz mehr, sondern strahlten Gefahr aus. Er hatte etwas über das Böse gehört. Es war nicht konkret zu ermitteln gewesen, aber es war trotzdem vorhanden.
Wieder sah er Diana vor sich sitzen und auch die Schnitte auf ihrer nackten Haut. Plötzlich überkam ihn Schüttelfrost. Aber nicht nur wegen Diana. Er dachte auch an seine Tochter Silvia, die ebenfalls so verdammt jung war.
Ruckartig stand er auf. jetzt hatte er es plötzlich eilig, in sein Haus zu kommen. Wie immer duckte er sich unter dem Efeu über der Tür, dann betrat er die angenehme Kühle seines Hauses und eilte sofort zum Telefon, um mit Silvia zu sprechen. Er wollte sie an ihrem Arbeitsplatz in der
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