Engelsgesicht
Haus, das immer verwunschen wirkte, weil sich Efeu an den Mauern hochreckte. Er würde sich ein Abendbrot zubereiten und einige Sätze mit seiner Tochter sprechen, falls sie kam, um ihn zu besuchen. Oft war sie direkt nach Geschäftsschluss weg und tauchte erst irgendwann am frühen Morgen wieder auf.
Lintock hatte es aufgegeben, sie nach dem Ziel zu fragen. Sie musste selbst wissen, ob sie eine Antwort geben wollte oder nicht. Bisher hatte sie ihm keine gegeben.
Cliff Lintock war 50 Jahre alt. Ein hochgewachsener, asketisch wirkender Mann mit grauen Haaren, die flach auf dem Kopf lagen. Dadurch wirkte seine Stirn sehr hoch. Beim Lesen musste er eine Brille aufsetzen, ansonsten waren seine Organe noch völlig okay. Wenn eben möglich, trieb er Sport, in einem Zimmer seines Hauses standen die entsprechenden Geräte, und hin und wieder joggte er auch.
In der letzten Zeit nicht. Da hatte er einfach den Wunsch verspürt, im Ort bleiben zu müssen. Als könnte er verhindern, dass etwas passierte.
Der Pfarrer machte sich auf den Rückweg. Wie so oft würde er sich am Abend zwei Spiegeleier in die Pfanne schlagen und Brot dazu essen. Danach wollte er noch an seiner Predigt arbeiten und sich dabei in den Garten setzen, denn das Wetter lud dazu ein. Die Sonne meinte es in diesem Mai schon besonders gut, denn es gab bereits Temperaturen wie im Hochsommer.
Manchmal fragte er sich auch, ob er die Ruhe und diese relative Eintönigkeit, verbunden mit dem Alleinsein, tatsächlich bis an sein Lebensende würde aushalten können. Wahrscheinlich nicht. Wenn er am Ende des Jahres nichts mehr von seiner Frau gehört hatte und auch Silvia ihm immer mehr entglitten war, würde er versuchen, eine andere Stelle zu bekommen. Weit weg von Wingmore.
Langsam ging er den Weg zurück. Vor dem Altar musste er nach links abbiegen, um die Seitenpforte zu erreichen. Der Duft von Maiglöckchen drang in seine Nase. Eine ältere Frau hatte mehrere gefüllte Vasen neben den Altar gestellt.
Mai – ein wunderschöner Monat. Im Prinzip, und er hatte ihn auch so in vielen vergangenen Jahren erlebt. Nun war alles anders geworden. Da hatte Lintock erleben müssen, dass das Leben zwei Seiten besaß, die verdammt unterschiedlich waren.
Der Pfarrer hatte sich schon nach links gedreht, als er das typische Geräusch hörte, das immer dann entstand, wenn die Seitenpforte aufgedrückt wurde. Sie kratzte immer leicht über den Boden hinweg, und Cliff Lintock blieb sofort stehen.
Er war gespannt, wer ihn da besuchen wollte. Der Weg durch die Pforte war eigentlich nicht der normale. Aber sie lag von außen her auch gut geschützt. Hin und wieder gab es Menschen, die heimlich zum Pfarrer kommen wollten.
Warum er gerade in diesem Fall Herzklopfen bekam, darüber wunderte er sich schon. Er ging auch ein wenig zur Seite, um in den Schatten einer grauen Säule zu treten.
Die Tür fiel nicht wieder zu, weil sie von einer Person offen gehalten wurde. Der Pfarrer konnte nicht sehen, wer auf der Schwelle stand. Die Person zögerte auch, die Kirche zu betreten.
Einige Sekunden verstrichen, bis Lintock plötzlich eine Flüsterstimme hörte. »Sind Sie da, Herr Pfarrer?«
Er wartete noch mit einer Antwort. Dass die Stimme einer Frau gehört hatte, war ihm nicht entgangen, nur hatte er die dazugehörige Person nicht identifizieren können. Deshalb wollte er noch abwarten.
»Sind Sie da?«
»Sie können kommen.«
Er hatte etwas lauter gesprochen und die andere Person wohl ein wenig erschreckt, weil sie zunächst keine Antwort gab. Dann die nächste Frage der Frau. »Wo sind Sie denn?«
»Moment, ich komme.« Er verließ den Schutz der Säule, trat so in das Dämmerlicht und wandte sich auch der Pforte zu.
Dort malte sich eine Gestalt ab. Da aus dem Hintergrund die Helligkeit in die kleine Kirche hineinfiel, war sie recht gut zu erkennen. Cliff Lintock kannte sie auch. Es war Diana Crane, die oft mit seiner Tochter Silvia zusammen gewesen war.
Im Ort galt sie als verrückt und leicht überdreht. Sie war einfach anders und hatte ihr Haar hellblau gefärbt. In Strähnen hing es an ihrem Kopf herab. Bekleidet war sie mit einer hellblauen Jeans, Turnschuhen und einem weißen T-Shirt, das bis über ihre Hüften hing.
»Du kannst ruhig kommen, Diana, oder soll ich zu dir kommen, sodass wir uns draußen unterhalten?«
»Auch nicht übel.«
»Gut. Wo?«
»Auf der Bank?«
»Einverstanden.« Lintock lächelte. Die Bank stand an einem relativ einsamen Platz und war von
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