Engelsgrab
ihm durch ein Vestibül aus Buntglasscheiben in eine Eingangshalle, wo seine Schritte auf dem blank polierten Parkettfußboden knarzten. Eine mächtige hölzerne Wendeltreppe führte nach oben, darunter standen ein antiker Sekretär mit weinrotem Ledersessel. An der Wand gegenüber ein Eichentisch, der aussah, als habe er einst in einem Refektorium gestanden, darauf eine kleine Tiffanylampe und ein leerer Briefständer aus Messing. An der Wand über dem Eichentisch hing ein gewaltiger Spiegel, der ein Stück der Wendeltreppe wiedergab.
Sie gingen einen Flur entlang, als Brady frischer Kaffeegeruch aus der Küche entgegenkam. Brady blieb stehen, als er in der Tür eine Frau stehen sah. Sie war um die vierzig, mit langem blondem Haar und geblümtem schwarzem Seidenkimono, den sie enger um sich zog, während sie ihm unruhig entgegensah. Zehn Uhr morgens, dachte Brady, und immer noch nicht angekleidet, doch dann erfasste er den verzweifelten Ausdruck ihrer blauen Augen und die winzige Hoffnung, die bei seinem Anblick in ihnen aufschimmerte.
Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht. Ihre Haare und die Form ihres Kopfes erinnerten ihn an die Tote, doch am schlimmsten war diese Hoffnung in ihren Augen, die in Kürze erlöschen würde. Er überlegte, ob er sich entschuldigen und von einem Irrtum sprechen sollte. Anschließend würde er zurückfahren und irgendeinen armen Hund auf dem Revier bitten, die Aufgabe für ihn zu übernehmen. Aber dann verwarf er die Gedanken. Er selbst musste es tun. Allein Matthews zuliebe war es seine Pflicht, die Sache bis zum Ende durchzuziehen.
Simmons zupfte ein Foto unter einem Magnet am Kühlschrank hervor und reichte es Brady. »Hier, nehmen Sie das.«
Brady und Mrs Simmons saßen an dem großen Holztisch inmitten der geräumigen Küche, vor jedem eine Tasse schwarzer Kaffee. Aus Höflichkeit hatte Brady das meiste seines Kaffees getrunken. Mrs Simmons hatte ihre Tasse nicht angerührt.
»Danke.« Brady betrachtete das Schulfoto von Sophie. »Ein hübsches Mädchen.«
Simmons gab ihm keine Antwort und setzte sich auch nicht an den Tisch. Geistesabwesend starrte er durch die Glastür auf die Terrasse und den Rasen dahinter.
Als Conrad in den Fairfield Drive einbog, hatte Brady lediglich registriert, dass das Grundstück der Simmons an brachliegende Felder grenzte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass nur der Holzzaun am Ende der weiten Rasenfläche das Grundstück von ihrem Tatort trennte.
»Noch einmal zur Sicherheit«, begann er. »Sophie ist um halb sechs am späten Nachmittag von hier aufgebrochen, um Evie Matthews zu besuchen.«
»Das habe ich doch schon gesagt.« Simmons fuhr herum. »Aber bitte, dann eben noch mal. Evie ist ihre beste Freundin. Sophie ist ständig da drüben bei den Matthews. Sie und Evie sind unzertrennlich.«
In Bradys Magengrube begann ein nervöses Kribbeln. Warum um alles in der Welt hatte Matthews nichts davon erwähnt?
Noch einmal studierte er das Foto. Da waren die langen blonden Haare, ebenso wie bei der Toten, aber das allein besagte noch nicht viel.
»Und um wie viel Uhr haben Sie versucht, Sophie auf ihrem Handy zu erreichen?«
»So gegen zwanzig vor drei morgens«, antwortete Simmons gereizt und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes Haar.
»Warum so spät?«
»Weil ich vor dem Fernseher eingenickt war. Als ich wach wurde, war es halb drei. Louise war schon im Bett, und natürlich nahm ich an, dass auch Sophie wieder zurück sei. Erst als ich in ihrem Zimmer oben nachgeschaut habe, wusste ich, dass sie nicht da war.«
»Ist das ungewöhnlich?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Simmons.
Die Antwort kam zu schnell, dachte Brady und sah, wie Simmons seiner Frau einen Blick zuwarf, wie um sie zu bitten, keinen Einwand zu erheben.
Brady wandte sich zu Louise Simmons um.
Sie schaute ihren Mann fragend an. Dann nickte sie steif.
»Könnte sie denn ausgerissen sein?«, wagte Brady sich vor.
Entnervt stieß Simmons den Atem aus.
»Ich meine, hätte sie einen Grund gehabt, nicht nach Hause zu kommen? Weil Sie vielleicht einen Streit hatten oder mit einem Freund nicht einverstanden waren, irgend so etwas.«
»Nein! Sophie hatte keinen Grund wegzulaufen. Und was Freunde angeht – mein Gott, sie ist erst fünfzehn. Sie hat sich für ihre Freundinnen interessiert, aber nicht für Jungen.«
»Vielleicht ist sie über Nacht bei einer Freundin geblieben.«
»Aber nicht, ohne uns etwas davon zu sagen. Wir haben Ihren Kollegen schon
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