Engelskraut
Fleisch. Der Schnitt an den Armvenen entlang tut längst nicht so weh wie der Trennungsschmerz, den ich immer noch überdeutlich spüre. Ich beobachte, wie das Blut hervorquillt, es bedeutet Erleichterung. Der Schnitt heilt wieder zu, vernarbt. Und bildet eine Schutzhaut, mit der ich mich umgebe. Die mich stark macht.
Nein. Ich will mich nicht länger ritzen.
Ich will zerstören, was mich zerstört.
Und was mich zerstört, das bist du. Du. Du.
12
›Die Stunde der Bilanz ist gekommen: Entscheiden Sie sich für eine Richtung, besonders, was Ihre Liebesangelegenheiten betrifft. Sie sollten entschlossen auftreten. Dies ist der Moment zum Handeln.‹
Die Tarot-Tageskarte im Internet hatte ihr den Weg gewiesen.
Jetzt saß sie vor dem Spiegel und probierte eine ihrer Perücken. Die platinblonde mit den schulterlangen Engelslocken war für diesen Zweck gut geeignet. Sie tuschte kräftig die Wimpern und trug über dem dunklen Lidstrich blau glitzernden Lidschatten auf, was ihr einen Schleierblick verlieh. Nun noch ein Hauch Rouge auf die Wangen und perlmuttrosa Gloss auf die Lippen. Sie zupfte die Locken über der Stirn zurecht und betrachtete sich von allen Seiten. Die Frau, die ihr im Spiegel entgegensah, hatte kaum Ähnlichkeit mit ihr. Sie setzte sich in Positur, hob ihre Digitalkamera und schoss ein paar Fotos von sich. Darin war sie geübt.
Sie entschied sich für ein Foto mit Seitenprofil, das am allerwenigsten von ihren Gesichtszügen verriet. Das Fotoprogramm, das sie vor Kurzem installiert hatte, tat weitere Dienste. Die feinen Falten um Mund und Augen retuschierte sie. Jünger war besser. Alle Männer wollten junge Frauen. Am besten solche, die keine Persönlichkeit hatten, die noch formbar waren. Püppchen ohne Hirn.
Befriedigt stellte sie fest, dass das Gesicht auf dem Bildschirm hinreißend war, eine junge Frau mit verträumtem Blick und wuscheligen Locken. Eine fremde Schöne, der sich kaum jemand entziehen konnte.
In ihrer Datingline legte sie ein neues Profil an, nannte sich Alraune und lud das soeben gefertigte Foto hoch.
Sie wartete, bis Tomtiger wieder online war und starrte auf den Bildschirm. Um diese Zeit hatte sie ihn immer erreicht. Früher, als er noch mit ihr kommunizierte. Chatanfragen von anderen Usern trafen ein. Die ignorierte sie. Und tatsächlich: Sie brauchte nicht lange zu warten und das bekannte Zeichen erschien. Sie klickte sein Profil an, hinterließ jedoch keine Nachricht. Allein das Anklicken würde ihn neugierig machen, das wusste sie. Und da erschien auch schon seine Anfrage.
›Hi, Alraune. Du bist neu hier, nicht wahr? Was für ein magisch klingender Name.‹
Genau das hatte er über Mandragora auch gesagt. Wie einfallslos! Sie empfand nur noch Verachtung für ihn.
›Du kennst dich mit Alraunen aus?‹
›Ein bisschen. Sie können zaubern, ist es nicht so?‹
›Wenn man daran glaubt.‹
›Dein Foto gefällt mir sehr, Alraune. Du musst Zuschriften ohne Ende bekommen. Bei deinem Aussehen.‹
Schleimer.
›Danke. Schade, dass kein Foto von dir da ist. Mich interessiert natürlich auch, wie mein Gesprächspartner aussieht.‹
Als ob sie das nicht wüsste.
›Wie spontan bist du, Alraune?‹
›Ziemlich spontan. Und ein bisschen romantisch.‹
›Würdest du dich mit mir treffen?‹
›Ein Blind Date?‹
›Sozusagen.‹
›Wann?‹
›So bald wie möglich.‹
Das kannst du haben.
›Heute? Um Mitternacht?‹
›Mitternacht? Wieso?‹
›Weil das die Zauberstunde ist. Ich sagte doch, ich bin romantisch.‹
›Ja, dann.‹
›Also?‹
›Ich will sehen, was sich machen lässt.‹
›Ja oder nein?‹
›Gut. Also ja.‹
›Wo?‹
›Hast du einen Vorschlag?‹
›Im Paradiesgarten neben der Kastorkirche. Du weißt, wo das ist?‹
›Ja. Aber das ist doch auf dem BUGA-Gelände. Da ist nachts abgeschlossen.‹
›Ich finde, das ist der passende Ort für ein erstes Rendezvous. Wo ein Wille ist …‹
›Du bist ja ganz schön dreist …‹
›Würdest du dich lieber mit einer langweiligen Frau auf dem Görresplatz treffen?‹
›Natürlich nicht.‹
›Ich logge mich jetzt aus. Also. Heute um Mitternacht im Paradiesgarten.‹
›Trägst du ein weißes Kleid, Alraune?‹
›Lass dich überraschen.‹
13
»Vorsicht! Nicht zu viel Wasser«, mahnte Hinterhuber.
Clarissa hielt eine Gießkanne in der Hand und versorgte die stachligen Kakteen, die Hinterhuber irgendwann im Büro auf Schränken und der Fensterbank abgestellt hatte. Dank guter
Weitere Kostenlose Bücher