Engelskraut
Geschlechtsteil ruhte zwischen den gespreizten Schenkeln. Das dunkle Haupthaar, das an den Schläfen von silbernen Fäden durchzogen war, begann sich an der Stirn zu lichten. Kleidungsstücke lagen keine herum.
»Schade drum, nicht wahr?«, sagte Irene Seiler, die offenbar ähnliche Gedanken hegte wie Franca. Diese wandte sich zu der Ärztin um und nickte. »Ja, wirklich schade.«
Die Bonner Rechtsmedizinerin drehte den Körper des Verstorbenen in verschiedene Richtungen und untersuchte ihn gründlich. »Keine äußeren Verletzungen«, stellte sie fest, während sie sich aufrichtete. »Keine Einstiche. Keine Würgemale. Nicht mal ein Kratzer. Die Leichenstarre ist noch nicht voll ausgebildet. Alles deutet darauf hin, dass der Tod irgendwann in der letzten Nacht eingetreten ist. Wahrscheinlich erst nach Mitternacht. Aber wodurch …« Sie ließ den letzten Satz unvollendet.
Nicht ganz in das Ambiente passend war die Tatsache, dass der Kopf des Toten auf einem weißen, bestickten Seidenkissen ruhte. Als ob ihn jemand liebevoll darauf gebettet hätte. Rechts und links des Körpers brannte je ein Grablicht in einem roten Plastikbecher.
»Was vermuten Sie?«, fragte Franca die Ärztin.
Diese hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Vermuten kann man viel.«
»Engel im Schnee«, sagte Franca. »Nur eben ohne Schnee.«
»Also mir fällt da eher der Vitruvmann ein«, widersprach die Rechtsmedizinerin. »So, wie der hier liegt.«
»Vitruvmann?« Franca blickte verständnislos.
Hinterhuber, der sich mit dem BUGA-Verantwortlichen unterhalten hatte, war neben sie getreten. »Leonardo da Vinci«, sagte er und stellte sich mit gespreizten Armen und Beinen vor sie hin. Er sah aus wie ein Hampelmann. Franca musste unwillkürlich lachen.
»Seine Proportionszeichnung führt auf den Vitruvmann zurück. Mann in Kreis und Quadrat. Ist auch auf der Rückseite der italienischen Euromünze abgebildet. Kennst du sicher.«
»Ach so. Ja, klar.« Flüchtig erinnerte sie sich an einen Besuch in Vinci, einem Örtchen westlich von Florenz. Dort hatte man dem Universalgenie ein hübsches Museum errichtet und all die Modelle gebaut, die Leonardo lediglich als Zeichnungen hinterlassen hatte. Es waren allesamt Pläne für Geräte und Maschinen gewesen, die zu dieser Zeit noch gar nicht erfunden waren.
»Und was sagt uns das?«
»Bis jetzt noch gar nichts.« Hinterhuber strich sich durch die dunklen Locken. »Aber wenn ich mir diesen Ort so ansehe, dann hat das Ganze schon etwas Symbolisches.«
»Wie meinst du das?«
»Ja, einmal diese Lage im Kreis. Zudem das ganze Drumherum. Der Paradiesgarten mit seiner Bepflanzung. Alles biblische Gewächse.«
Kaukasusvergissmeinnicht, Frauenmantel, Pfingstrose, Madonnenlilie. Franca hatte die kleinen Täfelchen bereits vorher bemerkt, die Auskunft über die Pflanzennamen gaben. Sie war sich sicher, dass Hinterhuber keine Beschriftungen brauchte, um zu wissen, um welche Gewächse es sich hier handelte. Wahrscheinlich kannte er sogar deren lateinische Namen.
»Wo sind denn hier Lilien und Rosen?«, fragte sie.
»Die blühen erst später«, erklärte Hinterhuber. »Pfingstrosen blühen, wie der Name schon sagt, zu Pfingsten. Die Paeonie ist keine Rose im üblichen Sinn. Sie hat keine Stacheln und steht, wie die Lilie, für das Reine und Unschuldige. Paeonien gelten als Königsblumen und wurden von jeher wegen ihrer Heilwirkung geschätzt und in Klostergärten angebaut. Man nennt sie auch Benediktinerrose. Auch der Frauenmantel gehört zur Familie der Rosengewächse.«
Franca hob eine Augenbraue. »Na, rein und unschuldig ist hier ja wohl nichts.«
»Hast du die Sprüche am Wasserbecken gelesen?«, fragte Hinterhuber.
Sie ging ein paar Schritte, um eine der Inschriften entziffern zu können. ›Die erde soll früher einmal ein paradies gewesen sein. möglich ist alles. die erde könnte wieder ein paradies werden. alles ist möglich.‹
Das Zitat war von Erich Kästner.
»Vielleicht befindet er sich ja jetzt im Paradies. Wer weiß das schon?«, bemerkte Franca sinnend.
»Wen meinst du? Kästner oder unseren Toten hier?«
»Such’s dir aus.«
Franca ging zurück zu der Leiche. »Wenn es keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden gibt, könnte es auch Selbstmord gewesen sein?«, wollte sie von der Rechtsmedizinerin wissen.
»So, wie der daliegt?« Irene Seilers Stimme klang skeptisch. »Obwohl, in meinem Beruf wird man immer wieder aufs Neue darüber belehrt, dass es nichts gibt,
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