Engelskraut
Pflege vermehrten sie sich immer weiter und trugen manchmal hübsche Blüten. »Die sind äußerst genügsam. Da reichen ein paar Tropfen.«
»Weiß ich doch«, meinte Clarissa. »Meine Mama hat auch solches Stachelzeug zu Hause.«
»Stachelzeug? Das sind edle Sukkulenten.«
Bevor er einen Vortrag über seine geliebten Kakteen halten konnte, fragte Franca: »Warst du schon auf der BUGA?«
Er, der sich in Flora und Fauna wie kein anderer auskannte, hatte sich natürlich eine Dauerkarte besorgt. »Klar«, sagte er. »Du weißt doch, wie sehr mich das interessiert. Da ist wirklich einiges vorteilhaft verändert worden, die Rhein-Promenade hat sich in einen großzügigen Boulevard verwandelt, der gar nicht wiederzuerkennen ist. Wir waren am Wochenende mit dem Kleinen dort unterwegs, allerdings war da kaum ein Durchkommen.«
Hinterhuber war vor Kurzem stolzer Vater eines Sohnes geworden. Ein Foto des Sprösslings zierte seinen Schreibtisch. Hin und wieder erzählte er von dessen Fortschritten, wenn man ihn darauf ansprach. Franca konnte sich vorstellen, dass ihr Kollege ein guter Vater war.
»Ich hab’s noch vor mir. Solch ein Ereignis darf man sich als ordentliche Koblenzerin nicht entgehen lassen«, meinte Franca.
»Genau. Gehört zur guten Bürgerpflicht.«
Clarissa hielt in ihrer Tätigkeit inne und nickte eifrig. »Ich war auch schon dort. Vor dem Schloss ist eine tolle Skateranlage. Mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden und so. Höhenunterschiede bis zu einem Meter«, schwärmte sie. »Gibt auch für Fortgeschrittene richtig was her.«
»Du skatest?«, fragte Franca, die sich ihr gestyltes Küken kaum in einem verschwitzten Sportdress und mit Knie- und Ellenbogenschützern vorstellen konnte.
»Klar, warum nicht?« Clarissa lachte. Sie verstand es immer wieder, Franca in Erstaunen zu versetzen. »Was kannst du besonders empfehlen?«, wandte sie sich wieder an Hinterhuber.
»Du stellst Fragen.« Er lachte. »Alles.«
»Wie, alles?«
»Na, der Gesamteindruck eben. Es ist ein Mikrokosmos, mit einer wunderbar aufbereiteten Natur. Vielen Veränderungen. Und vielen Höhepunkten. Gestern zum Beispiel …« Er kam nicht weiter, das Klingeln des Telefons unterbrach ihr Gespräch.
Clarissa stellte die Gießkanne auf den Schreibtisch und nahm das Gespräch an. »Einen Moment, bitte.« Sie sah von Hinterhuber zu Franca. Nickte und reichte den Hörer an Franca weiter.
Die Leitstelle. Ihre und Hinterhubers Anwesenheit war gewünscht. Und zwar auf dem BUGA-Gelände. »Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Franca, während sie aufstand. »Und du hältst hier die Stellung«, rief sie Clarissa zu.
Franca sah auf den Mann, der mit ausgebreiteten Armen und Beinen zu ihren Füßen lag. Wie ein Schneeengel, schoss es ihr durch den Kopf. So haben wir als Kinder früher im Schnee Engel geformt. Nur dass der Mann nackt war und nicht auf einer Schneedecke lag, sondern auf kahler Erde, die sich wie ein abgestorbener Kreis inmitten eines rechteckigen Blumenbeetes abhob, das von niederen Buchsbaumpflanzen eingerahmt war und in dem die Farben Blau und Weiß dominierten. Als Paradiesgarten wurde dieses hübsch angelegte Areal neben der Kastorkirche bezeichnet. Davor befand sich ein lang gezogenes Wasserbecken, in dessen Seitenwände Sprüche und Psalmen eingemeißelt waren.
Es war noch kühl an diesem Morgen im April. Zwischen hohen Bäumen zur Rheinseite hin ragte das raupenartige Dach der Talstation der Kabinenseilbahn hervor. Unermüdlich fuhren die Gondeln ein und wieder aus. Dahinter floss der Rhein, auf dem gerade ein Frachter geräuschvoll flussaufwärts tuckerte.
Einige neugierige Besucher reckten die Hälse. Etliche Journalisten und Fotografen hatten versucht, so nah wie möglich an den Tatort heranzukommen, und achteten dabei weder auf das rot-weiße Absperrband noch auf die Pflanzen. Einsatzkräfte der Polizei versuchten ihr Bestes, die Leute in Schach zu halten, wobei sie ihrerseits keine Rücksicht auf die angelegten Beete nahmen.
»Bitte, meine Herren, so passen Sie doch ein wenig auf«, ertönte immer wieder eine aufgeregte Männerstimme, offenbar einer der BUGA-Verantwortlichen, der eilends an den Ort des Geschehens gekommen war.
Franca ließ ihre Blicke über den Körper des Toten wandern, der im Brust- und Schambereich rasiert war. Ein schöner Mann, dachte sie. Oberkörper, Arme und Beine waren muskulös und wohlproportioniert, wie sie ein Bildhauer nicht ansprechender hätte meißeln können. Sein
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