Engelsleid (German Edition)
jagte sie einen gehörigen Schrecken ein, als sie nach Luft ringend zu Boden stürzte. Es blieb keine Ausnahme. Beim nächsten und übernäch s ten Mal geschah dasselbe, und ihre Lehrerin vermutete, dass La u ra sich einfach nur vor dem Tauchen und der Sportnote dr ü cken wolle. Dem Einfühlungsvermögen ihrer Mutter und deren Übe r redungskunst verdankte sie, dass der Kinderarzt Laura per Attest vom Schwimmunterricht befreite. Die Angst war auch in den Jahren danach nicht geringer geworden und befiel sie, sobald sie mit mehr als nur einer Badewanne voll Wasser konfrontiert wu r de.
» Und weiter? « , stieß sie neugierig geworden hervor.
» Alle Nephilim haben instinktiv Angst vor zu viel Wasser und trauen sich daher nicht rein, um schwimmen zu lernen. Da bist du keine Ausnahme. Das liegt euch Engelskindern in den Genen. Euer Unterbewusstsein warnt euch vor einer neuerlichen Sin t flut. «
Engelskinder? Er glaubte wirklich an diesen Unsinn. Und das Argument mit der Sintflut war gewiss die dämlichste, aber z u gleich fantasievollste Erklärung, die sie je gehört hatte. Am liebsten hätte sie laut darüber gelacht und ihm ins Gesicht g e schmettert, dass er sie endlich in Ruhe lassen solle – aber es gab ein Bild in ihrem Kopf, das in diesem Moment konkretere Formen annahm. Ein Bild, das sie nur aus den Träumen kannte, die sie vor allem in ihrer Jugend geängstigt hatten und nun nur noch selten auftraten. Ein Bild mit sturmg e peitschten Wellen, schreienden Menschen, ums Leben ri n genden Ertrinkenden. Es schien , als würde ihr Blut mit jeder Sekunde lan g samer durch ihre Adern fließen, bis es völlig zum Stillstand kommen würde, im kalten Wasser zu tiefroten Strängen gefroren. Wie seine r zeit im Schwimmbad fühlte Laura sich einer Ohnmacht nahe.
Zuerst war es nur ein Summen, das Azaradeel von sich gab. Dann ging dieses Summen in ein Lied über, in einer fremden Sprache gesungen. Seine Singstimme war voller Volumen und jeder Ton saß perfekt. Es war eine ungewöhnliche Melodie, die sich auf sanfte Weise in die Höhe schwang. Sphärisch, gehei m nisvoll und ergreifend.
In Lauras Kopf machte es Klick, als hätte er damit einen Schalter umgelegt. Sie wollte es nicht glauben, das Lied war ihr fremd, und dennoch wusste sie zugleich, dass sie dieses Lied sehr wohl kannte. Dieser Zwiespalt war äußerst verwirrend. Wenn sie es schon mal gehört hatte, so fragte sie sich, wann und wo sollte das gewesen sein? Nicht von ihrer Mutter, nicht im Radio. Sie ahnte, was Azaradeel ihr damit sagen wollte, aber sie wollte es nicht hören. Das war Unfug, das konnte nicht sein. Dieser Typ war verrückt, absolut durchgeknallt.
Und wenn doch alles wahr wäre, was er ihr erzählt hatte? Es war zum Haare raufen. Diese Melodie raubte ihr den letzten Nerv, ging ihr durch und durch. Er sollte damit aufhören ! Was sollte dieser theatralische Auftritt mit dem Licht und das ganze Getue mit der Engelsgeschichte, wenn er wirklich – ihr Vater war? Oh nein, wahrscheinlich war er aus einer psychiatrischen Anstalt ausgebrochen. Was sollte sie glauben? Welche Wahrheit gab es? Denn wenn das so wäre, dann müsste es ja mittlerweile Millionen Nachfahren von Engelskindern geben, von den anderen Gefall e nen. Was er wohl darauf antworten würde, dieser Irre?
Azaradeel antwortete ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen. » Unsere Kinder und Kindeskinder wurden alle von der Sintflut dahingerafft. Du kennst die Geschichte der Arche Noah? Das war die göttliche Korrektur. Die Nephilim und ihre Nachkommen mussten sterben, weil Gott es den Engeln nicht erlaubt hatte, auf Erden zu wandeln und sich zu vermehren. « Er schnaubte, als wäre er darüber immer noch wütend.
» Die Sintflut? Also bitte! Nun mach dich mal nicht lächerlich. Das ist doch nur eine Geschichte aus der Bibel, niedergeschrieben von Männern, die solche Gleichnisse als Druckmittel verwend e ten, um die Menschen zu unterdrücken. Ohne Bildung war das Volk doch gar nicht in der Lage, Naturphänomene als solche zu bewerten, und mehr war auch die Sintflut nicht. «
Wenn Blicke töten könnten. Azaradeel widersprach ihr nicht, sondern sah sie nur schweigend, aber mit einem solch strafenden Blick an, dass es Laura schwerfiel, mit innerem Trotz diesem standzuhalten.
» Danach gab es nur noch selten solche Kinder. Keiner von uns wollte mehr zusehen müssen, wie sein eigen es Fleisch und Blut ste r ben muss. «
» Ach, und meine Mutter hat dir den Kopf verdreht und de s wegen
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