Engelslicht
für Luce oder für Daniel?
»Gut, bis auf den Mond sind alle hier.« Dee schaute zum Osthimmel hinauf. »Noch fünf Minuten. Daniel, würdest du bitte Platz nehmen?«
Daniel reichte Dee die Laterne und ging über die Marmorplatte. Er stellte sich vor den Qayom Malak. Luce wollte zu ihm gehen, aber bevor sie sich auch nur in seine Richtung drehen konnte, wurde Dees Griff um ihre Hand fester. »Bleib bei mir, Schätzchen.«
Daniel setzte sich zwischen Roland und Cam und richtete seinen ausdruckslosen Blick auf Luce.
»Erlaube mir, es zu erklären.« Dees ruhige, klare Stimme hallte von den roten Felswänden wider und alle Engel richteten sich aufmerksam auf. »Wie ich euch bereits gesagt habe, brauchen wir den Mond, und jetzt, in wenigen Augenblicken, wird er uns über diesem Gipfel besuchen kommen. Er wird durch die Linse des Heiligenscheins herablächeln. Wir haben Glück, dass der Himmel heute Nacht klar ist, sodass nichts die Schatten seiner schönen Krater verbirgt, wenn sie sich mit den Rissen in dem Glas des Heiligenscheins verbinden.
Gemeinsam werden diese Elemente die Umrisse von Kontinenten und die Grenzen von Ländern projizieren, was, zusammen mit den Linien auf der Platte, die Karte des Simulacrum Terra Prima ergeben wird. Genau hier.« Sie zeigte auf eine leere Stelle auf der Marmorstufe, wo sie zuvor gelegen hatte, um den Abstand zwischen dem Qayom Malak und der Silbernen Feder zu messen. »Ihr werdet eine Darstellung dessen sehen, wie die Welt gewesen ist, als ihr Engel auf die Erde gestürzt seid. Ja« – sie atmete ein – »nur noch einen Augenblick. Da.«
Die Krone des Mondes stieg über die Felsspitze, die direkt hinter dem Qayom Malak hervorragte. Und obwohl der Mond blassweiß und im Abnehmen begriffen war, leuchte-te er in diesem Moment hell genug. Die Engel, die Outcasts, Luce und Dee standen minutenlang schweigend da und sahen zu, wie der Mond am Himmel hinaufkletterte, sahen, wie er erst ein wenig Licht und dann ein wenig mehr durch die Glasfläche des Heiligenscheins warf. Die Marmorplatte dahinter war leer, dann trüb, und dann, ganz plötzlich, war die Projektion klar und scharf und real. Sie zeigte Linien, Überschneidungen – Kontinente – Grenzen, Länder und Meere.
Es sah unvollständig aus. Einige Linien verloren sich im Nichts, einige Konturen wurden nicht geschlossen. Aber es war deutlich eine Karte der Erde, dachte Luce, so wie sie ausgesehen haben musste, als Daniel sich in sie verliebt hatte. Es weckte etwas in den tiefsten Winkeln ihres Gedächtnisses. Es sah vertraut aus.
»Seht ihr den gelben Stein dort in der Mitte?«, fragte Dee.
Luce kniff die Augen zusammen, um eine Kachel aus dem gleichen, etwas dunkleren gelben Stein zu sehen wie denjenigen, auf den der Kelch gestellt worden war. »Das sind wir, genau hier, in der Mitte von allem.«
»Wie ein Pfeil, der sagt: ›Ihr seid hier‹«, sagte Luce.
»Ganz recht, Liebes.« Dee wandte sich an Luce. »Und jetzt, meine Lucinda, hast du schon herausgefunden, welche Rolle du in dieser Zeremonie spielst?«
Luce wand sich. Was wollten sie von ihr? Dies war die Geschichte der Engel, nicht ihre. Nach diesem ganzen Wirbel war sie doch nur irgendein Mädchen, mitgerissen in dem Versprechen auf Liebe. Daniel hatte sie auf der Erde gefunden, nachdem er in Ungnade gefallen war, man sollte ihn fragen, was los war. »Es tut mir leid. Ich weiß es nicht.«
»Ich werde dir einen Tipp geben«, erwiderte Dee. »Siehst du die Stelle, wo die Engel gefallen sind, auf dieser Karte markiert?«
Luce seufzte, sie wollte zur Sache kommen. »Nein.«
»Vor Jahrtausenden ist verfügt worden, dass dieser Ort auf dieser Karte nur durch Blut offenbart werden kann. Das Blut, das durch unsere Adern fließt, weiß viel mehr als wir. Schau genau hin. Siehst du die Rillen im Marmor? Das sind die Linien, um die Grenzen der angelico-prälapsarischen Erde zu schließen. Sie werden sichtbar werden, sobald das Blut vergossen wurde. Das Blut wird sich an einem äußerst wichtigen Punkt sammeln. Das Wissen, meine Liebe, liegt im Blut.«
»Der Ort des Sturzes«, murmelte einer der Engel ehrfürchtig. Es war Arriane oder Annabelle, Luce konnte es nicht genau sagen.
»Ein bisschen wie bei einer Schatzkarte in einer Abenteuergeschichte wird der Aufschlagpunkt – das ist der Ort des Sturzes – durch einen fünfzackigen Stern aus Blut markiert werden. Also …«
Dee redete weiter, aber Luce konnte nicht mehr hören, was sie sagte. Das war es also, was
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