Engelslicht
trennte, war jetzt zerbrechlich, so dünn und brüchig wie eine Eierschale.
Blitz.
Zurück auf der Wiese, rittlings auf ihrem silbernen Altar sitzend, sehnte sie sich nach der Rückkehr Gottes. Luce schaute auf den blonden Engel hinab. Sie hatte sich bereits daran erinnert, dass sie nach seiner Hand gegriffen hatte. Sie erinnerte sich an seine langsamen, traurigen Schritte auf dem Wolkengrund. An seinen Scheitel, bevor er aufsah. Damals war der Himmel still gewesen. Luce und der Engel waren für einen seltenen Moment allein gewesen, abseits von der Harmonie der anderen.
Er drehte sich um und blickte zu ihr hinauf. Er hatte ein kantiges Gesicht, lockiges bernsteinfarbenes Haar und eisblaue Augen. Er bekam Lachfältchen, wenn er sie anlächelte. Sie erkannte ihn nicht.
Nein – das war es nicht –, sie erkannte, kannte ihn durchaus. Vor langer Zeit hatte Lucinda diesen Engel geliebt.
Aber er war nicht Daniel.
Ohne zu wissen, warum, wollte Luce vor dieser Erinnerung zurückschrecken, wollte so tun, als hätte sie sie nicht gesehen, wollte mit einem Blinzeln wieder mit Daniel auf den steinigen Ebenen von Troja sein. Aber ihre Seele war an diese Szene wie festgeschweißt. Sie konnte sich von diesem Engel, der nicht Daniel war, nicht abwenden.
Er streckte die Hände nach ihr aus. Ihre Flügel schlangen sich umeinander. Er flüsterte ihr ins Ohr:
»Unsere Liebe ist endlos. Es kann nichts anderes geben.«
Nein.
Schließlich riss sie sich von der Erinnerung los. Zurück in Troja. Außer Atem. Ihre Augen mussten ihre Panik verraten.
»Was hast du gesehen?«, flüsterte Annabelle.
Luce öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte.
Ich habe ihn betrogen. Wer immer er war. Es gab jemanden vor Daniel, und ich …
»Es ist noch nicht vorbei.« Endlich fand sie ihre Stimme wieder. »Der Fluch. Obwohl ich weiß, wer ich bin und dass ich Daniel wähle, gibt es noch etwas anderes, nicht wahr? Jemand anderes. Er ist derjenige, der mich verflucht hat.«
Daniel strich ihr ganz sachte mit den Fingern über den glänzenden Rand ihrer Flügel. Sie schauderte, denn jede Berührung ihrer Flügel brannte mit der Leidenschaft eines tiefen Kusses und entzündete etwas tief in ihrem Inneren. Endlich wusste sie, welche Wonne es ihm bereitete, wenn sie ihre Hände über seine Flügel gleiten ließ. »Du bist so weit gekommen, Lucinda. Aber du hast immer noch ein Stück des Weges vor dir. Suche in deiner Vergangenheit. Du weißt bereits, wonach du Ausschau hältst. Finde es.«
Sie schloss die Augen und durchkämmte erneut Jahrtausende von schweren Erinnerungen.
Sie verlor den Boden unter den Füßen. Ein Meer von Farben verschwamm um sie herum, ihr Herz schlug heftig, und alles wurde weiß.
Wieder im Himmel.
Er strahlte seit Gottes Rückkehr auf den Thron. Der Himmel leuchtete in der Farbe eines Opals. Die Wolken waren dick an diesem Tag, weiße Bäusche, die den Engeln fast bist an die Hüfte reichten. Die hohen weißen Türme rechts waren Bäume im Hain des Lebens, die silbrigen Blüten links würden schon bald die Früchte des Gartens des Wissens tragen. Die Bäume waren jetzt größer. Sie hatten Zeit zum Wachsen gehabt, seit Luce sich das letzte Mal an sie erinnert hatte.
Sie war zurück auf der Wiese, in der Mitte einer großen, flackernden Zusammenkunft von Licht. Die Engel im Himmel waren vor dem Thron versammelt, der nun wieder in einer Helligkeit erstrahlte, die so intensiv war, dass Lucinda sich bei seinem Anblick wand.
Der silberne Altar, der einst Luzifer gehört hatte, war jetzt ans andere Ende der Wiese gebracht worden. Der Thron hatte ihn auf eine Ebene herabgesenkt, die eine Beleidigung darstellte. Zwischen Luzifer und dem Thron stand der Rest der Engel vereint beisammen – aber bald, wurde Lucinda klar, würden sie sich trennen, sich der einen oder anderen Seite zuwenden.
Sie war wieder bei dem Namensaufruf. Diesmal würde sie sich dazu zwingen, sich daran zu erinnern, wie es ausgegangen war.
Jeder Sohn und jede Tochter des Himmels würde aufgefordert werden, eine Seite zu wählen. Gott oder Luzifer. Gut oder … nein, er war nicht böse.
Das Böse gab es noch nicht.
So eng zusammengedrängt, war jeder Engel atemberaubend, einzigartig, aber irgendwie nicht von den übrigen zu unterscheiden. Dort war Daniel, in der Mitte, das reinste Schimmern, das sie je gesehen hatte. In ihrer Erinnerung bewegte Lucinda sich auf ihn zu.
Von wo kam sie?
Sie hörte Daniels Stimme: Suche in deiner Vergangenheit.
Sie hatte
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