Engelslicht
Licht gab, gab es Engel. Eben noch Dunkelheit, dann das warme Gefühl, von einer sanften, großartigen Hand ins Dasein geschubst zu werden.
Gott schuf die himmlische Heerschar der Engel – alle dreihundertachtzehn Millionen – in einem einzigen brillanten Augenblick. Lucinda war da, und Daniel und Roland und Annabelle und Cam – und Millionen weitere, alle perfekt, alle herrlich, alle dazu bestimmt, ihren Schöpfer zu verehren.
Ihre Körper bestanden aus der gleichen Substanz, aus der das Firmament des Himmels gemacht war. Sie waren nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus himmlischer Materie, aus dem Material des Lichts – stark, unzerstörbar, schön anzusehen. Ihre Schultern, Arme und Beine nahmen schimmernd Form an und ließen die Gestalt erahnen, die Sterbliche bei ihrer eigenen Schöpfung annehmen würden. Die Engel entdeckten alle gleichzeitig ihre Flügel. Jedes Paar war ein wenig anders und spiegelte die Seele seines Besitzers.
Schon bei der Entstehung der Engel waren Lucindas Flügel von einem hellen, reflektierenden Silber, der Farbe des Sternenlichts. Sie hatten seit Anbeginn der Zeit in ihrer einzigartigen Herrlichkeit gestrahlt.
Die Schöpfung geschah mit der Geschwindigkeit von Gottes Willen, aber sie entfaltete sich in Luce’ Erinnerung wie eine Geschichte, wie eine weitere von Gottes frühesten Schöpfungen, ein Nebenprodukt der Zeit. Eben noch war nichts, dann war der Himmel voller Engel. In jenen Tagen war der Himmel grenzenlos, sein Boden mit Wolkengrund bedeckt, einer weichen weißen Substanz wie neblige Wolken, die die Füße und Flügelspitzen der Engel umhüllte, wenn sie darüber wandelten.
Es gab endlose Ebenen im Himmel, jede davon voller Nischen und gewundener Pfade, die sich unter einem honigfarbenen Himmel in alle Richtungen verzweigten. Die Luft war vom Duft eines Nektars erfüllt, der aus zarten weißen Blumen quoll, die auf lieblichen Hainen sprossen. Ihre runden Blüten sprenkelten alle Ecken und Winkel des Himmels mit Tupfern und sahen aus wie die Vorfahren weißer Pfingstrosen.
Obstgärten voll silberner Bäume trugen die köstlichsten Früchte, die es je gegeben hat. Die Engel taten sich daran gütlich und dankten für ihr erstes und einziges Heim. Ihre Stimmen erhoben sich gemeinsam zum Lob ihres Schöpfers und verbanden sich zu einem Klang, der in den Kehlen der Menschen später als Harmonie bekannt werden würde.
Eine Wiese entstand und teilte den Obstgarten in zwei Hälften. Und als alles andere im Himmel vollendet war, stellte Gott einen atemberaubenden Thron ans Ende der Wiese. Er pulsierte von göttlichem Licht.
»Kommt zu mir«, befahl Gott und ließ sich verdientermaßen zufrieden in dem tiefen Sitz nieder. »Fortan werdet ihr mich als den Thron anreden.«
Die Engel versammelten sich auf der Ebene des Himmels und näherten sich voller Freude dem Thron. Instinktiv bildeten sie eine Reihe und stellten sofort und für immerdar eine Rangordnung auf. Lucinda erinnerte sich daran, dass sie vom Rand der Wiese den Thron nicht deutlich sehen konnte. Er leuchtete zu hell für die Engelaugen. Sie erinnerte sich auch daran, dass sie einst der dritte Engel in der Reihe gewesen war – der Engel, der Gott am drittnächsten war.
Ihre Flügel wuchsen und verdichteten sich angesichts dieser Ehre.
Über dem Thron hingen acht Altäre aus gewelltem Silber in der Luft und formten einen Bogen, wie ein Baldachin, der den Thron beschirmte. Gott rief die ersten acht Engel in der Reihe auf, diese Sitze einzunehmen und zu den Erzengeln des Throns zu werden. Lucinda nahm auf dem dritten Stuhl von links Platz. Sie passte perfekt hinein, da er nur für sie geschaffen worden war. Hier gehörte sie hin. Verehrung strömte aus ihrer Seele, floss zu Gott.
Es war perfekt.
Es war nicht von Dauer.
Gott hatte weitere Pläne für das Universum. Eine andere Erinnerung erfüllte Lucinda und ließ sie schaudern.
Gott verließ die Engel.
Alles war voller Freude auf der Wiese, und dann war der Thron plötzlich verwaist. Gott überschritt die Schwellen des Himmels und ging fort, um die Sterne zu erschaffen und die Erde und den Mond.
Mann und Frau wurden ins Leben gerufen.
Der Himmel verdunkelte sich, als Gott ihn verließ. Lucinda fror und kam sich nutzlos vor. Das war der Moment, erinnerte sie sich, in dem die Engel begannen, einander anders zu sehen, die unterschiedlichen Farben ihrer Flügel zu bemerken. Einige begannen zu tratschen, dass Gott ihrer und ihrer harmonisierenden Loblieder müde
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