Engelslicht
mit der Zeit waren die abgenutzten Seiten nahezu unleserlich geworden.
Arriane beugte sich über ihn. »Und diese Hieroglyphen soll ein Mensch lesen können.«
Daniel ließ sich nicht beirren. Er machte sich rasch neue Notizen, und diese Handschrift mit den eleganten Schwüngen schenkte Luce ein warmes, vertrautes Gefühl, als sie feststellte, dass sie sie schon einmal gesehen hatte. Sie genoss jede Erinnerung daran, wie lange ihre Liebe zu Daniel nun schon dauerte und wie groß sie war, selbst wenn die Erinnerung durch etwas Kleines ausgelöst wurde, wie die Kursivschrift, die durch die Jahrhunderte lief und vorbuchstabierte, dass Daniel ihr gehörte.
»Die Himmlische Heerschar, also die bündnisfreien Engel, die aus dem Himmel verbannt worden waren, hat einen Bericht über die frühen Tage nach dem Sturz angefertigt«, sagte er langsam. »Aber es ist eine vollkommen bruchstückhafte Geschichte.«
»Eine Geschichte?«, wiederholte Miles. »Ihr sucht also einfach ein paar Bücher und lest sie, und dann wisst ihr, wohin ihr gehen müsst?«
»So einfach ist das nicht«, erwiderte Daniel. »Es sind keine Bücher in dem Sinne, dass sie dir jetzt etwas sagen würden, es waren ja die frühen Tage. Also wurden unsere Historie und unsere Erzählungen mit anderen Mitteln festgehalten.«
Arriane lächelte. »An dem Punkt wird es kompliziert, nicht wahr?«
»Die Geschichte war in Reliquien eingebunden – in vielen Reliquien, über Jahrtausende hinweg. Aber für unsere Suche sind es vor allem drei, die relevant zu sein scheinen, drei, die möglicherweise die Antwort darauf enthalten, wo die Engel auf der Erde gelandet sind.
Wir wissen nicht, um was für Reliquien es sich handelt , aber wir wissen, wo sie bei der letzten Erwähnung gewesen sind: in Venedig, Wien und Avignon. Sie befanden sich an diesen drei Orten, als ich dieses Buch recherchiert und geschrieben habe. Aber das ist einige Zeit her, und selbst damals war es reine Vermutung, ob die Gegenstände – was immer sie sein mögen – noch dort waren.«
»Also könnte es als himmlische Zeitverschwendung enden«, bemerkte Cam mit einem Seufzen. »Na toll. Wir werden nach rätselhaften Objekten suchen, die uns vielleicht sagen werden, was wir wissen müssen, oder vielleicht auch nicht, und das an Orten, an denen sie sich vielleicht seit Jahrhunderten befunden haben, oder vielleicht auch nicht.«
Daniel zuckte die Achseln. »Kurz gesagt, ja.«
»Drei Reliquien. Neun Tage«, sinnierte Annabelle mit einem Augenaufschlag. »Das ist nicht viel Zeit.«
»Daniel hatte recht.« Gabbes Blick fuhr zwischen den Engeln hin und her. »Wir müssen uns aufteilen.«
Das war es, worüber Cam und Daniel gestritten hatten, als das Beben begann. Ob sie eine bessere Chance hatten, die Reliquien rechtzeitig zu finden, wenn sie getrennt vorgingen.
Gabbe wartete auf Cams widerstrebendes Nicken, bevor sie fortfuhr: »Dann wäre das also geklärt. Daniel und Luce – ihr nehmt die erste Stadt.« Sie warf einen Blick auf Daniels Notizen, dann schenkte sie Luce ein aufmunterndes Lächeln. »Venedig. Ihr macht euch auf nach Venedig und findet die erste Reliquie.«
»Aber wir wissen doch gar nicht, um was es sich bei dieser Reliquie handelt?« Luce beugte sich über das Buch und sah eine flüchtige Federzeichnung am Rand. Es sah beinahe aus wie ein Serviertablett, die Art, nach der ihre Mom immer in Antiquitätenläden suchte.
Daniel musterte es jetzt ebenfalls und schüttelte leicht den Kopf über das Bild, das er vor Jahrhunderten gezeichnet hatte. »Das habe ich meinen Studien der Pseudepigrafen entnehmen können – den verworfenen biblischen Schriften der frühen Kirche.«
Das Objekt war eiförmig, mit einer gläsernen Unterseite, die Daniel geschickt wiedergegeben hatte, indem er den Boden auf der anderen Seite der durchsichtigen Basis skizziert hatte. Das Tablett, oder was immer die Reliquie sein mochte, hatte auf beiden Seiten etwas, das wie kleine beschädigte Griffe aussah. Daniel hatte sogar einen Maßstab darunter eingefügt, und seiner Zeichnung zufolge war der Gegenstand groß – etwa achtzig mal hundert Zentimeter.
»Ich kann mich kaum daran erinnern, es gezeichnet zu haben.« Daniel klang so, als sei er enttäuscht über sich selbst. »Ich weiß genauso wenig wie ihr, was es ist.«
»Ich bin mir sicher, dass du es herausfinden wirst, sobald du dort bist«, sagte Gabbe in dem angestrengten Versuch, ihm Mut zu machen.
»Das werden wir«, beteuerte Luce. »Da bin ich
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