Engelslicht
ihres Lebens die schneeweißen Schwingen entfaltete.
Der Schatten seiner Flügel fiel auf Luces Augenlider und ihr wurde warm ums Herz. Als sie die Augen öffnete, sah sie die Flügel, so prächtig wie nur je. Sie lehnte sich ein wenig zurück und schmiegte sich an Daniels Brust, während er sich zum Fenster umdrehte.
»Es ist nur eine vorübergehende Trennung«, verkündete Daniel zu den anderen gewandt. »Viel Glück und guten Flug.«
Mit jedem langen Flügelschlag gewannen sie dreihundert Meter an Höhe. Die Luft, die im feuchten Georgia kühl und schwer gewesen war, wurde kalt und trocken, je weiter sie stiegen. Luce spürte es beim Atmen. Der Wind zerrte ihr an den Ohren und die Augen fingen an zu tränen. Der Erdboden rückte in immer weitere Ferne und die Welt schrumpfte und verschwamm zu einem atemberaubenden grünen Bild. Die Sword & Cross hatte die Größe eines Daumenabdrucks. Dann war sie verschwunden.
Beim ersten Blick auf den Ozean wurde Luce schwindlig. Sie war froh, als sie von der Sonne wegflogen, auf den dunklen Horizont zu.
Das Fliegen mit Daniel war eine so berauschende und intensive Erfahrung, dass sie ihr in ihrer Erinnerung niemals würde gerecht werden können. Und doch hatte sich etwas verändert: Luce hatte inzwischen den Bogen raus. Sie fühlte sich wohl, folgte Daniels Bewegungen, entspannte sich in seinen Armen. Sie hielt die Beine an den Knöcheln leicht überkreuz, die Absätze ihrer Stiefel berührten die Spitzen von seinen. Ihre Körper schwangen im Einklang und antworteten auf die Bewegung seiner Flügel, die sich über ihren Köpfen wölbten und sie vor der Sonne abschirmten, um dann zu einem weiteren mächtigen Schlag auszuholen.
Sie passierten die Wolkengrenze und verschwanden im Dunst. Um sie herum war nichts außer einem zarten Weiß und der nebligen Feuchtigkeit, die leicht über sie hinwegstrich. Ein weiterer Flügelschlag. Ein weiterer Aufstieg in den Himmel. Luce machte sich keine Gedanken darüber, wie sie hier oben an der Grenze der Atmosphäre würde atmen können. Sie war bei Daniel. Es ging ihr gut. Sie waren auf dem Weg, die Welt zu retten.
Schon bald beendete Daniel den Steigflug und flog weniger wie eine Rakete und mehr wie ein unergründlich machtvoller Vogel. Aber er drosselte das Tempo nicht, er beschleunigte eher noch –, aber nun, da ihre Körper parallel zum Boden lagen, schwächte sich das Brüllen des Windes ab, und die Welt schien strahlend weiß und erstaunlich still zu sein, so friedlich, als sei sie gerade erst entstanden und als hätte noch niemand mit Geräuschen experimentiert.
»Geht es dir gut?« Seine Stimme hüllte sie ein und gab ihr das Gefühl, als könne die Liebe alles auf der Welt wieder gutmachen, was nicht gut war.
Sie legte den Kopf schräg nach links, um ihn anzusehen. Sein Gesicht war entspannt und ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Seine Augen verströmten ein violettes Licht, das so intensiv war, dass nur dieses Licht gereicht hätte, um sie schweben zu lassen.
»Dir ist kalt«, murmelte er ihr ins Ohr und streichelte ihre Finger, um sie zu wärmen, was einen heißen Schauer durch Luce’ Körper sandte.
»Schon besser«, sagte sie.
Sie brachen durch die Wolkendecke: Es war wie dieser Moment in einem Flugzeug, wenn die Aussicht aus dem trüben ovalen Fenster sich von einfarbig grau zu einer unendlichen Farbpalette wandelt. Der Unterschied war, dass es weder ein Fenster noch ein Flugzeug gab und nichts mehr zwischen ihr und dem Muschelrosa der Wolken im Osten lag, dem tiefen Dunkelblau des Himmels in großer Höhe.
Die Wolkenlandschaft bot sich fremd und fesselnd dar. Wie immer traf sie Luce unvorbereitet. Dies war eine andere Welt, in der es nur sie und Daniel gab, eine erhabene Welt, die Spitzen der höchsten Minarette der Liebe.
Welcher Sterbliche träumte nicht davon? Wie viele Male hatte Luce sich danach gesehnt, auf der anderen Seite eines Flugzeugfensters zu sein? Durch das seltsame Blassgold einer sonnengeküssten Regenwolke unter ihr zu wandern? Jetzt war sie hier und überwältigt von der Schönheit einer fernen Welt, die sie auf der Haut spüren konnte.
Aber Luce und Daniel konnten nicht innehalten. Sie konnten nicht ein einziges Mal in den nächsten neun Tagen stillstehen – oder alles würde zum Stillstand kommen.
»Wie lange wird es dauern, bis wir Venedig erreicht haben?«, wollte sie wissen.
»Nicht mehr allzu lange«, flüsterte ihr Daniel ins Ohr.
»Du klingst wie ein Pilot, der seit
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