Engelslicht
jemand gewagt hätte, dazwischenzugehen.
Sie erreichte das Fenster und sah, dass sich die beiden Engel gegenüberstanden. Sie hielt sich am Fensterbrett fest. Ein Anflug von Stolz überkam sie – was sie nie zugeben würde –, dass sie es ohne Hilfe zurück in die Bibliothek geschafft hatte. Wahrscheinlich würde es keiner der Engel auch nur bemerken. Sie seufzte und schob ein Bein hinein. Das war der Moment, in dem das Fenster zu zittern begann.
Die Glasscheibe klapperte, und die Fensterbank vibrierte so gewaltig unter ihren Händen, dass sie beinahe heruntergeworfen worden wäre. Sie klammerte sich fest und spürte die Erschütterungen in ihrem Inneren, als würden auch ihr Herz und ihre Seele zittern.
»Ein Erdbeben«, flüsterte sie. Gerade als sich ihr Griff um das Fensterbrett lockerte, glitt ihr Fuß über den Rand des Simses.
»Lucinda!«
Daniel stürzte ans Fenster und packte ihre Hände. Auch Cam war da und hatte ihr eine Hand auf den Rücken und die andere auf den Hinterkopf gelegt. Die Bücherregale wackelten und die Lichter in der Bibliothek flackerten, als die beiden Engel Luce durch das rüttelnde Fenster zogen, ehe die Scheibe aus dem Rahmen glitt und in tausend Glassplitter zerbarst.
Sie sah Daniel fragend an. Er hielt noch immer ihre Handgelenke umklammert, aber sein Blick ging an ihr vorbei, nach draußen. Er sah zum Himmel, der nun aufgewühlt und grau war.
Schlimmer noch war das andauernde Vibrieren in ihrem Inneren , das Luce das Gefühl gab, als säße sie auf dem elektrischen Hinrichtungsstuhl. Das Beben schien eine Ewigkeit zu dauern, obwohl es in Wirklichkeit nur fünf, vielleicht zehn Sekunden waren – genug Zeit für Luce, Cam und Daniel, um mit einem dumpfen Aufprall auf dem staubigen Holzboden der Bibliothek zu landen.
Dann hörte das Zittern auf und alles wurde totenstill.
»Was zum Geier?« Arriane rappelte sich vom Boden hoch. »Sind wir ohne mein Wissen durch einen Verkünder nach Kalifornien gegangen? Niemand hat mir erzählt, dass es in Georgia Erdbeben gibt!«
Cam zog sich einen langen Glassplitter aus dem Unterarm. Luce stieß einen kleinen Schrei aus, als ihm leuchtend rotes Blut den Ellbogen hinunterrann, aber es waren ihm keine Schmerzen anzusehen. »Das war kein Erdbeben. Das war eine seismische Zeitverschiebung.«
»Eine was?«, fragte Luce.
»Die erste von vielen.« Daniel schaute durch das zersplitterte Fenster und sah einer weißen Kumuluswolke zu, die über den nun blauen Himmel zog. »Je näher Luzifer kommt, desto stärker werden sie werden.« Er warf Cam einen Blick zu, der nickte.
»Ticktack, Leute«, sagte Cam. »Die Zeit läuft. Wir müssen aufbrechen.«
Zwei
Getrennte Wege
Gabbe trat vor. »Cam hat recht. Ich habe die Waage von diesen Verschiebungen sprechen hören.« Sie zupfte an den Ärmeln ihrer blassgelben Kaschmirstrickjacke, als würde ihr nie wieder warm werden. »Sie werden Zeitbeben genannt. Es sind Wellen in unserer Realität.«
»Und je näher er kommt«, fügte Roland mit seiner üblichen unaufdringlichen Weisheit hinzu, »je näher wir dem Ende seines Sturzes sind, desto häufiger und schwerer werden die Zeitbeben werden. Die Zeit stockt in Vorbereitung der Neuschreibung ihrer selbst.«
»So wie wenn der Computer immer öfter hängt, bevor die Festplatte abstürzt und die zwangzigseitige Hausarbeit futsch ist?«, fragte Miles. Alle sahen ihn verwirrt an. »Was?«, sagte er. »Machen Engel und Dämonen keine Hausaufgaben?«
Luce ließ sich auf einen Holzstuhl an einem leeren Tisch sinken. Sie fühlte sich hohl, als hätte sich durch das Zeitbeben etwas Wichtiges in ihr gelöst und sei für immer verloren. Das Zanken der Engel ging ihr kreuz und quer durch den Kopf, ergab jedoch nichts Nützliches. Sie mussten Luzifer aufhalten, und ihr wurde klar, dass keiner von ihnen genau wusste, wie sie das anstellen sollten.
»Venedig. Wien. Und Avignon.« Daniels klare Stimme durchbrach den Lärm. Er setzte sich neben Luce und legte einen Arm um die Rückenlehne ihres Stuhls. Seine Fingerspitzen streiften ihre Schulter. Als er das Buch Das Wächteramt der Engel so hielt, dass alle es sehen konnten, verstummten die anderen. Alle konzentrierten sich.
Daniel zeigte auf eine Textpassage. Luce sah erst jetzt, dass das Buch in Latein verfasst war. Sie erkannte einige Wörter aus dem Lateinkurs, den sie in Dover einige Jahre lang belegt hatte. Daniel hatte mehrere Wörter unterstrichen und eingekreist und ein paar Randbemerkungen gemacht, aber
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