Engelslicht
wollten. Wir können all diesen Jahren des Leidens einen Sinn geben.«
»Seht«, sagte Steven und zeigte zum Himmel.
Er war von Sternen übersät. Einer, in weiter Ferne, war besonders hell. Er flackerte, dann schien er ganz zu verlöschen, bevor er heller als zuvor zurückkehrte.
»Das ist er, nicht wahr?«, fragte Luce. »Der Sturz?«
»Ja«, antwortete Francesca. »Das ist er. Er sieht genauso aus, wie es in den alten Texten steht.«
»Es war nur« – Luce legte die Stirn in Falten und blickte angestrengt – »ich kann es nur sehen, wenn ich …«
»Konzentrier dich«, befahl Cam.
»Was geschieht mit ihm?«, fragte Luce.
»Er nimmt auf dieser Welt Gestalt an«, sagte Daniel. »Es war nicht der körperliche Übergang vom Himmel zur Erde, der neun Tage gedauert hat. Es war die Verlagerung von einem himmlischen zu einem irdischen Reich. Als wir hier gelandet sind, waren unsere Körper … anders. Wir wurden anders. Das hat seine Zeit gedauert.«
»Jetzt läuft uns die Zeit davon«, sagte Roland und sah auf die goldene Taschenuhr, die ihm Dee vor ihrem Tod gegeben haben musste.
»Dann wird es Zeit für uns zu gehen«, sagte Daniel zu Luce.
»Da hoch?«
»Ja, wir müssen zu ihnen hinauffliegen. Wir werden direkt zu den Grenzen des Sturzes fliegen und dann wirst du …«
»Ich muss ihn aufhalten?«
»Ja.«
Sie schloss die Augen und dachte zurück an die Art, wie Luzifer sie auf der Wiese angesehen hatte. Er sah aus, als wolle er jeden Funken Zärtlichkeit auslöschen, den es gab. »Ich denke, ich weiß, wie.«
»Ich habe euch doch gesagt, dass sie das sagen würde!«, jubelte Arriane.
Daniel zog Luce an sich. »Bist du dir sicher?«
Sie küsste ihn, nie war sie sich sicherer gewesen. »Daniel, ich habe gerade meine Flügel zurückbekommen. Ich werde nicht zulassen, dass Luzifer sie mir wegnimmt.«
Also verabschiedeten Luce und Daniel sich von ihren Freunden, nahmen sich an den Händen und erhoben sich in die Nacht. Sie flogen endlos weit nach oben, durch die dünnste äußere Schicht der Atmosphäre, durch einen Schleier aus Licht am Rande des Raums.
Der Mond wurde riesig und schien wie eine Mittagssonne. Sie durchquerten neblige, umwölkte Galaxien und kamen an anderen Monden mit anderen von Kratern überschatteten Antlitzen und fremden Planeten, die von rotem Gas und gestreiften Ringen aus Licht leuchteten, vorbei.
Wie lange sie auch flogen, Luce wurde nicht müde. Sie begann zu verstehen, wie Daniel tagelang auf Schlaf verzichten konnte, sie hatte weder Hunger noch Durst. Ihr war in der eisigen Nacht nicht kalt.
Schließlich, am Rande des Nichts, in der dunkelsten Ecke des Universums, erreichten sie die Grenze. Sie sahen das schwarze Netz von Luzifers Verkünder, das zwischen den Dimensionen waberte. Darin war der Sturz.
Daniel schwebte an ihrer Seite, seine Flügel streiften ihre und übermittelte ihr Stärke. »Du wirst durch den Verkünder gehen müssen. Halt dich da nicht auf. Geh weiter, bis du ihn in dem Sturz findest.«
»Ich muss allein hineingehen, nicht wahr?«
»Ich würde dir bis ans Ende der Welt und darüber hinaus folgen. Aber du bist die Einzige, die es tun kann«, antwortete Daniel. Er nahm ihre Hand und küsste ihr die Finger, die Innenfläche der Hand. Er zitterte. »Ich werde hier sein.«
Ihre Lippen trafen sich ein letztes Mal.
»Ich liebe dich, Luce«, sagte Daniel. »Ich werde dich immer lieben, ob Luzifer Erfolg hat oder nicht …«
»Nein, sag das nicht«, flehte Luce. »Er wird nicht …«
»Aber wenn doch«, fuhr Daniel fort, »will ich, dass du weißt, dass ich es wieder tun würde. Ich werde dich jedes Mal wählen.«
Eine Ruhe überkam Luce. Sie würde ihn nicht enttäuschen. Sie würde sich selbst nicht enttäuschen.
»Ich werde nicht lange weg sein.«
Sie drückte seine Hand, drehte sich um und stürzte sich in die Dunkelheit, hinein in Luzifers Verkünder.
Achtzehn
Einen Stern vom Himmel holen
Es herrschte völlige Dunkelheit.
Luce war bisher nur durch ihre eigenen Verkünder gereist, die kühl und feucht waren, sogar friedlich. Der Eingang zu Luzifers Verkünder war schal, heiß, voller beißendem Rauch – und ohrenbetäubendem Lärm. Schleimige Bitten um Gnade und hohe, hallende Seufzer durchdrangen seine innere Wand.
Luce’ Flügel sträubten sich – ein Gefühl, das sie noch nie erlebt hatte –, als sie begriff, dass die Verkünder des Teufels Vorposten der Hölle waren.
Es ist nur ein Durchgang, sagte sie sich. Es ist wie jeder andere
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