Engelslicht
war. Sie hatte einen König getötet, die Kleider seines Generals angezogen und sich auf einen Krieg vorbereitet, der nicht ihrer war – alles aus Liebe zu Daniel.
Luce hatte ihre Seele in Lu Xin im ersten Augenblick erkannt. Sie konnte sich auch hier finden, sogar von leuchtenden Seelen umgeben, die wie die Lichter einer Stadt schimmerten. Sie würde sich im Inneren des Sturzes wiederfinden.
Plötzlich wusste sie, dass das der Ort war, wo auch Luzifer sein würde.
Sie schloss die Augen, schlug leicht mit den Flügeln und bat ihre Seele, sie zu sich selbst zu führen. Sie bewegte sich durch Millionen, glitt über leuchtende Flutwellen von Engeln. Es dauerte eine kleine Ewigkeit. Für neun Tage hatten sie und ihre Freunde ein Wettrennen gegen die Zeit gemacht, hatten nur daran gedacht, wie sie den Ort des Sturzes finden konnten. Wie lange würde Luce nun, da sie ihn gefunden hatten, brauchen, um die Seele aufzuspüren, auf die es ankam, die Nadel in diesem Heuhaufen aus Engeln, die ihre Gestalt wechselten? Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Dann, in einer Galaxie aus erstarrten Engeln, erstarrte Luce.
Jemand sang.
Es war ein Liebeslied, so schön, dass es ihre Flügel erbeben ließ.
Sie hielt hinter der festen weißen Kugel eines fallenden Engels namens Ezechiel inne und lauschte.
»Mein Meer hat ein Ufer gefunden … Mein Brennen hat eine Flamme gefunden …«
Ihre Seele schwoll von einer lang vergessenen Erinnerung an. Sie spähte um Ezechiel herum, den Engel der Wolken, um zu schauen, wer auf der Lichtung sang.
Es war ein Junge, der ein Mädchen in den Armen wiegte, seine Stimme, die das Ständchen brachte, sanft und süß wie Honig.
Das langsame Schaukeln seiner Arme war die einzige Bewegung in dem erstarrten Sturz.
Dann sah Luce, dass das Mädchen nicht einfach irgendein Mädchen war. Sie war eine halbgeformte Kugel aus Licht, die einen sich verändernden Engel umgab. Sie war die Seele, die früher einmal Lucinda gewesen war.
Der Junge schaute auf, als er Luce’ Nähe spürte. Er hatte ein kantiges Gesicht, gewelltes bernsteinfarbenes Haar und Augen von der Farbe von Eis, die vor stummer Liebe strahlten.
Aber er war kein Junge. Er war ein Engel von solch verheerender Schönheit, dass Luce sich vor einer Einsamkeit, an die sie sich nicht erinnern wollte, verkrampfte.
Er war Luzifer.
So hatte er im Himmel ausgesehen. Aber er war beweglich, voll ausgeformt, anders als die Millionen von Engeln, die ihn umgaben – was Luce bestätigte, dass er der Dämon der Gegenwart war, derjenige, der seinen Verkünder über den Sturz geworfen hatte, um dessen zweite Verbindung mit der Erde herzustellen. Seine eigene stürzende Seele konnte hier überall sein, genauso gelähmt wie die anderen es gewesen waren, als der Thron sie aus dem Himmel verbannt hatte.
Luce hatte recht damit gehabt, dass ihre Seele sie zu Luzifer führen würde. Nachdem er diesen Sturz in Gang gesetzt hatte, musste er durch seinen eigenen Verkünder hier hineingetaucht sein.
Und womit hatte er die letzten neun Tage verbracht? Mit dem Singen von Schlafliedern und Sich-hin-und-her-Wiegen, während die Welt in der Schwebe hing und Armeen von Engeln um die Welt rasten, um ihn aufzuhalten?
Ihre Flügel brannten. Sie wusste, dass dies alles war, was er getan hatte, denn sie wusste, dass er sie liebte, dass er sie noch immer wollte. Hier ging es um ihren Verrat an Luzifer.
»Wer ist da?«, rief er.
Luce bewegte sich auf ihn zu. Sie war nicht hergekommen, um sich vor ihm zu verstecken. Außerdem hatte er bereits den Schimmer ihrer Seele hinter Ezechiel gespürt. Sie hörte an seiner verärgerten Stimme, dass er sie wiedererkannt hatte.
»Oh. Du bist es.« Er hob leicht die Arme und hielt ihr Luce’ fallendes Selbst hin. »Hast du meine Geliebte gesehen? Ich glaube, du würdest sie« – Luzifer schaute sich um und suchte nach einem Wort – »erfrischend finden«.
Luce rückte näher heran, gleichermaßen angezogen von dem strahlenden Engel, der ihr das Herz gebrochen hatte, und der seltsamen, halb geformten Version ihrer selbst. Dies war der Engel, der auf der Erde zu dem Mädchen Luce werden würde. Sie sah, wie ihr eigenes Gesicht in dem Licht in Luzifers Armen flackernd sichtbar wurde. Dann war es fort.
Sie überlegte, mit diesem seltsamen Wesen zu verschmelzen. Sie wusste, dass sie es tun konnte: die Hand ausstrecken und Besitz von ihrem ältesten Körper ergreifen, spüren, wie ihr bei der Vereinigung mit ihrer Vergangenheit flau im
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