Engelslicht
aus der Vase und atmete ihren vollen Duft ein. Dass ein paar Wassertropfen vom Stiel auf die Brokatdecke mit dem Rosenmuster fielen, störte sie nicht. Dann stellte sie das Kissen am Kopfende des Messingbettes auf, um sich im Raum umzusehen.
Für einen Moment war sie verwirrt, weil sie sich an einem fremden Ort befand. Geträumte Erinnerungen an Reisen durch die Verkünder verblassten langsam, als sie vollends wach wurde. Bill war nicht mehr da, um ihr Hinweise darauf zu geben, wo sie gelandet war. Er erschien ihr nur in ihren Träumen, und in der vergangenen Nacht war er Luzifer gewesen, ein Ungeheuer, das über die Vorstellung gelacht hatte, sie und Daniel könnten irgendetwas ändern oder aufhalten.
Ein weißer Umschlag lehnte an der Vase auf dem Nachttisch.
Daniel.
Sie erinnerte sich nur an einen sanften, süßen Kuss und wie sich seine Arme von ihr gelöst hatten, als er sie am vorigen Abend ins Bett gebracht und dann die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Wohin war er danach gegangen?
Sie riss den Umschlag auf und zog die steife weiße Karte, die er enthielt, heraus. Auf der Karte standen drei Worte:
Auf dem Balkon.
Lächelnd schlug Luce die Decken zurück und schob die Beine über die Bettkante. Sie tappte über den riesigen Webteppich, die weiße Pfingstrose immer noch in der Hand. Die Fenster waren hoch und schmal und reichten fast bis zu der gut sechs Meter hohen, gewölbten Decke. Hinter einem der dunkelbraunen Vorhänge führte eine Glastür auf den Balkon. Sie entriegelte die Tür und trat hinaus, in der Erwartung, Daniel zu finden und in seine Arme zu sinken.
Doch der halbmondförmige Balkon war leer. Eine kurze Balustrade, ein Stockwerk tiefer das grüne Wasser des Kanals, und ein kleiner Tisch mit Glasplatte und daneben ein roter Klappstuhl aus Segeltuch. Es war ein schöner Morgen. Die Luft roch brackig, aber frisch. Auf dem Kanal glitten schmale schwarz glänzende Gondeln wie elegante Schwäne aneinander vorbei. Auf einer Wäscheleine ein Stockwerk über ihr sang eine Drossel und auf der anderen Seite des Kanals stand eine Reihe schmaler pastellfarbener Häuser. Es war bezaubernd, gewiss, das Traum-Venedig der meisten Menschen, aber Luce war nicht als Touristin hier. Sie und Daniel waren hier, um ihre Geschichte zu retten und die Geschichte der Welt. Und die Uhr tickte. Und Daniel war verschwunden.
Dann bemerkte sie einen zweiten weißen Umschlag auf dem Balkontisch, der an einem winzigen weißen Styroporbecher lehnte und einer kleinen Papiertüte. Wieder riss sie den Umschlag auf und wieder fand sie eine Karte mit nur drei Worten:
Bitte warte hier.
»Ärgerlich, aber romantisch«, sagte sie laut. Sie setzte sich auf den Klappstuhl und spähte in die Tüte. Eine Handvoll kleiner, mit Marmelade gefüllter und mit Zimt und Zucker bestäubter Donuts strömte einen berauschenden Duft aus. Die Tüte fühlte sich warm an und hatte ein paar Fettflecken, wo das Öl durchsickerte. Luce steckte einen Donut in den Mund und nahm einen Schluck aus der winzigen weißen Tasse, die den kräftigsten und köstlichsten Espresso enthielt, den sie je probiert hatte.
»Schmecken die Bombolini?«, rief Daniel von unten.
Luce sprang auf und beugte sich über das Geländer. Er stand am Heck einer Gondel, die mit Engeln bemalt war, und trug einen flachen Strohhut mit einem breiten roten Band. Langsam steuerte er das Boot mit einem langen Riemen auf sie zu.
Ihr ging das Herz auf, wie immer, wenn sie Daniel in einem anderen Leben zum ersten Mal sah. Aber er war hier. Er gehörte ihr. Es geschah jetzt.
»Tauch sie in den Espresso, und dann sag mir, wie es ist, im Himmel zu sein«, sagte Daniel und lächelte zu ihr hinauf.
»Wie komme ich zu dir hinunter?«, rief sie.
Er zeigte auf die schmalste Wendeltreppe, die Luce je gesehen hatte, gleich rechts neben dem Geländer. Sie schnappte sich den Kaffee und die Tüte mit Donuts, schob sich den Stiel der Pfingstrose hinters Ohr und ging auf die Treppe zu.
Sie konnte Daniels Blick spüren, als sie über die Balustrade kletterte und die Stufen hinunterglitt. Jedes Mal, wenn sie eine volle Umdrehung der Treppe hinter sich brachte, fing sie ein Aufblitzen seiner violetten Augen auf. Als sie unten ankam, reichte er ihr die Hand, um ihr ins Boot zu helfen.
Da war die Elektrizität, nach der sie sich seit ihrem Erwachen gesehnt hatte. Der Funke zwischen ihnen, den sie bei jeder Berührung spürten. Daniel schlang die Arme um sie und zog sie eng an sich. Er küsste sie
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