Engelslicht
lange und leidenschaftlich, bis ihr schwindelig wurde.
»So muss man einen Morgen beginnen.« Daniel strich über die Blütenblätter der Pfingstrose hinter ihrem Ohr.
Plötzlich spürte sie ein schwaches Gewicht an ihrem Hals, und als sie die Hand hob, fand sie eine zierliche Kette, der ihre Finger bis zu einem silbernen Medaillon folgten. Sie hielt es vor sich und betrachtete die rote Rose, die in den Deckel eingraviert war.
Ihr Medaillon! Es war dasjenige, das Daniel ihr an ihrem letzten Abend in der Sword & Cross gegeben hatte. Sie hatte es während der kurzen Zeit, die sie allein in der Hütte verbracht hatte, in den Einband des Buches Das Wächteramt der Engel gesteckt, aber ihre Erinnerung an diese Tage war unklar. Sie wusste nur noch, dass Mr Cole sie in aller Eile zum Flughafen gebracht hatte, damit sie ihren Flug nach Kalifornien nicht verpasste. Das Medaillon und das Buch waren ihr erst wieder eingefallen, als sie in der Shoreline eingetroffen war, und zu dem Zeitpunkt war sie davon überzeugt gewesen, sie verloren zu haben.
Daniel musste es ihr um den Hals gelegt haben, als sie geschlafen hatte. Ihre Augen wurden wieder feucht, diesmal vor Glück. »Wo hast du …«
»Mach es auf.« Daniel lächelte.
Als sie das Medaillon das letzte Mal in der Hand gehalten hatte, hatte das Bild einer früheren Luce und eines früheren Daniels sie verwirrt. Daniel hatte versprochen, ihr bei ihrer nächsten Begegnung zu sagen, wann das Foto aufgenommen worden war. Doch dazu war es nicht gekommen. Ihre gestohlene gemeinsame Zeit in Kalifornien war meist stressig und zu kurz gewesen, voller dummer Streitereien, die sie sich nun mit Daniel nicht mehr vorstellen konnte.
Luce war froh darüber, dass sie gewartet hatte, denn als sie diesmal das Medaillon öffnete und das winzige Foto hinter dem Glas sah – Daniel mit Fliege und Luce mit einer eleganten Kurzhaarfrisur –, erkannte sie sofort, was es war.
»Lucia«, flüsterte sie. Es war die junge Krankenschwester, die Luce kennengelernt hatte, als sie in das Mailand des Ersten Weltkriegs getreten war. Das Mädchen war damals viel jünger gewesen, süß und ein wenig forsch, aber so aufrichtig, dass Luce es sofort bewundert hatte.
Sie lächelte bei dem Gedanken, wie Lucias Blick immer wieder zu Luces kürzerem, modernem Haarschnitt gegangen war, und wie Lucia gescherzt hatte, dass alle Soldaten in Luce verliebt seien. Sie erinnerte sich vor allem daran, dass, wenn Luce etwas länger in dem italienischen Krankenhaus geblieben wäre und wenn die Umstände … nun, ganz andere gewesen wären, sie beide die besten Freundinnen hätten sein können.
Sie blickte strahlend zu Daniel auf, aber ihre Miene verdüsterte sich schnell. Er sah sie an, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen.
»Was hast du?« Sie ließ das Medaillon los, trat auf ihn zu und schlang ihm die Arme um den Hals.
Er schüttelte benommen den Kopf. »Ich bin einfach nicht daran gewöhnt, solche Momente mit dir zu teilen. Der Ausdruck auf deinem Gesicht, als du Lucia erkannt hast, ist das Schönste, was ich je gesehen habe.«
Luce errötete und lächelte und war sprachlos und wollte weinen, alles gleichzeitig. Sie verstand genau, was Daniel meinte.
»Es tut mir leid, dass ich weggegangen bin und dich einfach so allein gelassen habe«, fuhr er fort. »Ich musste in Bologna etwas in einem von Mazottas Büchern überprüfen. Ich dachte, dass du so viel Schlaf brauchst wie möglich, und du sahst so schön aus, dass ich es nicht übers Herz bringen konnte, dich zu wecken.«
»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, erkundigte Luce sich.
»Möglicherweise. Mazotta hat mir einen Hinweis auf eine der Piazzas hier in der Stadt gegeben. Er ist in erster Linie Kunsthistoriker, aber er kennt sich in Theologie besser aus als jeder Sterbliche, dem ich je begegnet bin.«
Luce ließ sich auf die niedrige rote Samtbank der Gondel sinken. Daniel setzte den Riemen in Bewegung und das Boot nahm Fahrt auf. Langsam glitten sie durch das leuchtend pastellgrüne Wasser des Kanals, auf dessen Oberfläche das Spiegelbild der Palazzi an den Ufern durch kleine Wellen verzerrt wurde.
»Die gute Nachricht«, fuhr Daniel fort und schaute unter der Krempe seines Hutes hervor, »ist die, dass Mazotta zu wissen glaubt, wo sich das Objekt befindet. Ich habe mit ihm bis Sonnenaufgang darüber gestritten, aber wir haben schließlich ein interessantes altes Foto gefunden, das mit meiner Zeichnung
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