Engelslicht
du wolltest nicht.«
»Nein.« Luce schloss die Augen, als der kühle Nebel einer Wolke über sie hinwegging und ihr Kondenswasser sie kitzelte. Sie war plötzlich unerklärlich traurig. »Ich wollte nicht. Ich war nicht bereit dazu.«
»Nun«, sagte Dee. »Du bist zur Besinnung gekommen und deine neue Frisur gefällt mir sehr gut!«
»Seht.« Daniel zeigte nach vorn, wo die dichte Wolkendecke wie ein Kliff abfiel. »Wir sind da.«
Sie stiegen nach Avignon hinab. Der Himmel über der Stadt war klar, ohne Wolken, die ihnen die Sicht versperrten. Die Flügel der Engel warfen Schatten auf die mittelalterlichen Häuser und den Papstpalast. Ringsum breiteten sich grüne Äcker und Weiden aus. Kühe grasten friedlich und ein Traktor fuhr über das Land.
Sie schwenkten nach links und atmeten über einem Pferdestall den feuchten Gestank von Heu und Dung ein. Dann kreisten sie tief über einer Kathedrale aus dem gleichen gelbbraunen Stein wie die meisten anderen Bauten der Altstadt. Touristen nippten in einem fröhlichen Café an ihrem Kaffee. Die Stadt glühte golden in der Mittagssonne.
Die Verblüffung darüber, so schnell angekommen zu sein, vermischte sich mit dem Gefühl, dass ihnen die Zeit durch die Finger rann. Sie hatten viereinhalb Tage nach den Reliquien gesucht. Die Hälfte der Zeit, bevor Luzifers Sturz über sie kommen würde, war aufgebraucht.
»Da müssen wir hin.« Daniel zeigte auf eine Brücke am Ortsrand, die nicht ganz über den schimmernden Fluss reichte, der sich durch die Stadt wand. Es war, als sei die Hälfte der Brücke ins Wasser gestürzt. »Pont Saint-Bénézet.«
»Was ist damit passiert?«, fragte Luce.
Daniel warf einen Blick über die Schulter. »Erinnerst du dich, wie still Annabelle geworden ist, als ich erwähnte, dass wir hierherkommen würden? Sie hat den Jungen inspiriert, der im Mittelalter diese Brücke gebaut hat, in der Zeit, da die Päpste hier und nicht in Rom lebten. Er bemerkte eines Tages, wie sie über die Rhône flog, als sie dachte, dass niemand sie sehen konnte. Er baute eine Brücke, um ihr auf die andere Seite zu folgen.«
»Wann ist sie eingestürzt?«
»Langsam, mit der Zeit, stürzte ein Bogen nach dem anderen in den Fluss. Arriane sagt, der Junge – er hieß Bénézet – habe einen Blick für Engel gehabt, aber nicht für Architektur. Annabelle hat ihn geliebt. Sie ist als seine Muse in Avignon geblieben, bis er starb. Er hat nie geheiratet, hielt sich abseits von der Gesellschaft Avignons. Die Stadt dachte, er sei verrückt.«
Luce versuchte, ihre Beziehung mit Daniel nicht mit dem zu vergleichen, was Annabelle mit Bénézet gehabt hatte, aber es war schwer. Welche Art von Beziehung konnten ein Engel und ein Sterblicher wirklich haben? Wenn all das einmal vorüber war, wenn sie Luzifer besiegten … was dann? Würden sie und Daniel nach Georgia zurückkehren und wie jedes andere Paar leben, freitags nach dem Kino noch ein Eis essen gehen? Oder würde die ganze Stadt sie für verrückt halten, wie Bénézet?
War es einfach hoffnungslos? Was würde am Ende aus ihnen werden? Würde ihre Liebe verschwinden wie die Bögen einer mittelalterlichen Brücke?
Die Vorstellung, ein normales Leben mit einem Engel zu führen, war verrückt. Luce spürte es in jedem Moment, den Daniel sie durch den Himmel flog. Und doch liebte sie ihn mit jedem Tag mehr.
Sie landeten am Ufer des Flusses im Schatten einer Trauerweide und ein Schwarm Enten flatterte aufgeregt ins Wasser. Am helllichten Tage falteten die Engel ihre Flügel zusammen. Luce stand hinter Daniel, um den komplizierten Vorgang zu beobachten, als seine Flügel wieder in seine Haut einfuhren. Zuerst zogen sie sich von der Mitte aus ein, dann falteten sich mit einem leisen Schnappen Schichten von Muskeln und himmlischen Federn aufeinander. Als Letztes kamen Daniels dünne, beinahe durchsichtige Flügelspitzen, die leuchteten, als sie in seinem Körper verschwanden und keine Spur auf dem eigens für ihn geschneiderten T-Shirt hinterließen.
Sie gingen zu der leeren Brücke, ganz wie gewöhnliche Touristen, die sich für Architektur interessierten. Annabelle bewegte sich steifer als sonst, und Luce sah, dass Arriane sie an der Hand berührte. Die Sonne schien und es roch nach Lavendel und dem Fluss. Die Brücke bestand aus großen weißen Steinen und wurde von langen Bögen getragen. Auf dem dritten Pfeiler der Brücke stand eine kleine Kapelle mit einem Turm. Auf einem Schild stand: CHAPELLE SAINT-NICOLAS .
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