Engelslicht
Dezember. Fünf Tage waren verstrichen, seit sie aus dem Verkünder zurückgekehrt war. Also war die neuntägige Frist, während derer die Engel zur Erde stürzten, bereits zur Hälfte verstrichen. Luzifer und all ihre früheren Ichs hatten mehr als die Hälfte ihres Sturzes hinter sich.
Sie hatten zwei der drei Reliquien, aber sie wussten nicht, um was es sich bei der dritten handelte, wussten nicht, wie sie sie lesen sollten, sobald sie alle zusammen hatten. Schlimmer noch, während der Suche nach den Gegenständen hatten sie sich weitere Feinde gemacht. Und es sah so aus, als hätten sie ihre Freunde verloren.
Staub von der Pont Saint-Bénézet saß unter Luces Fingernägeln. Was, wenn es Cam war? Luce war wegen Cams Verstrickung in ihre Mission argwöhnisch gewesen, und nun, wenige Tage später, bedrückte sie der Gedanke, ihn zu verlieren. Cam war wild und dunkel, unberechenbar und Furcht einflößend und nicht der Mann, der für Luce bestimmt war – aber das hieß nicht, dass sein Schicksal ihr gleichgültig war, dass er ihr gleichgültig war.
Und Gabbe. Die Südstaaten-Schönheit, die immer wusste, was zu sagen und zu tun war. Von dem Moment an, als Luce Gabbe in der Sword & Cross kennengelernt hatte, hatte der Engel nichts anderes getan, als auf sie aufzupassen. Jetzt wollte Luce auf Gabbe aufpassen.
Molly Zane war mit Cam und Gabbe ebenfalls nach Avignon gegangen. Luce hatte Molly zunächst gefürchtet und dann gehasst – bis zu dem Morgen, als Luce zu Hause durchs Fenster geklettert war und Molly vorfand, die sich in ihrem Bett für sie ausgegeben hatte. Es war ein großer Gefallen gewesen. Selbst Callie war gern mit Molly zusammen. Hatte der Dämon sich verändert? Hatte Luce sich verändert?
Das rhythmische Schlagen von Daniels Flügeln am Sternenhimmel lullte Luce ein; sie entspannte sich vollkommen, aber sie wollte nicht schlafen. Sie wollte sich darauf konzentrieren, was in Golgatha womöglich auf sie warten würde, wenn sie dort eintrafen, wollte gewappnet sein gegen das, was kommen würde.
»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte Daniel. Seine Stimme war leise und intim in dem wilden Wind. Annabelle und Arriane flogen vor ihnen her, ein kleines Stück tiefer. Ihre Flügel, dunkel silbern und schillernd, breiteten sich weit über den grünen Stiefel Italiens aus.
Luce berührte das silberne Medaillon an ihrem Hals. »Ich habe Angst.«
Daniel drückte sie fest an sich. »Du bist so tapfer, Luce.«
»Ich fühle mich stärker als je zuvor, und ich bin stolz auf all die Erinnerungen, zu denen ich selbst Zugang finden kann, vor allem wenn sie uns helfen können, Luzifer aufzuhalten« – sie hielt inne und warf einen Blick auf ihre dreckigen Fingernägel – »aber ich habe trotzdem Angst vor dem, auf das wir jetzt zufliegen.«
»Ich werde Sophia nicht in deine Nähe lassen.«
»Es geht nicht darum, was sie mir antun könnte, Daniel. Es geht darum, was sie vielleicht schon jenen angetan hat, an denen mir etwas liegt. Diese Brücke, dieser ganze Staub …«
»Ich hoffe ebenso wie du, dass Cam, Gabbe und Molly unverletzt sind.« Er schlug kräftig mit den Flügeln, und Luce spürte, wie sie über eine dicke Regenwolke stiegen. »Aber Engel können sterben, Lucinda.«
»Das weiß ich, Daniel.«
»Ja. Und du weißt, wie gefährlich das hier ist. Jeder Engel, der sich unserem Kampf anschließt, um Luzifer aufzuhalten, weiß es ebenfalls. Indem sie sich uns anschließen, erkennen sie an, dass unsere Mission wichtiger ist als die Seele eines einzelnen Engels.«
Luce schloss die Augen. Die Seele eines einzelnen Engels.
Da war es wieder. Die Idee, von der sie zum ersten Mal gehört hatte, als Arriane in dem IHOP in Vegas darüber gesprochen hatte. Ein einziger mächtiger Engel als Zünglein an der Waage. Eine Entscheidung, die den Ausgang eines Kampfes entschied, der Jahrtausende angedauert hatte.
Als sie die Augen wieder öffnete, war der Mond, der gerade über der dunklen Landschaft aufging, in sanftes weißes Licht gebadet.
»Die Kräfte von Himmel und Hölle«, begann sie, »befinden sie sich gerade wirklich im Gleichgewicht?«
Daniel schwieg. Sie spürte, wie seine Brust sich an ihrem Rücken hob und senkte. Seine Flügel schlugen ein wenig schneller, aber er antwortete nicht.
»Du weißt schon?«, drängte Luce weiter. »Die gleiche Zahl von Dämonen auf einer Seite und die gleiche Zahl von Engeln auf der anderen?«
Wind peitschte ihr ins Gesicht.
Schließlich sagte Daniel: »Ja, obwohl
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