Engelslied
Crew wahrte allerdings respektvolle Distanz – wie diese Crews es immer taten, seit Illium klargestellt hatte, wer bei einem Duell Engel gegen Hubschrauber den Kürzeren zog. Der Hubschrauber nämlich – um Längen.
»Hab ihn!« Es gelang ihr, einen Wurf abzufangen, der fast in der jubelnden Menge gelandet wäre. Sie warf ihn nach links und sehr hoch – wo er von einem Engel mit zersplitterten grünen Augen und Schwingen aus eisigem Sonnenlicht aufgefangen wurde. Er jagte den Ball mit links Richtung Illium, der ihn fing, allerdings unter der Wucht des Aufpralls dann erst einmal in die Tiefe schoss, ehe er sich wieder fing und triumphierend beide Arme hochriss, den Ball fest in der rechten Hand.
Elena und die anderen drei Spieler verständigten sich mit Blicken, um sich gleich darauf still und heimlich aus dem Spiel zurückzuziehen. Heftig atmend saßen sie danach alle nebeneinander auf einer Dachkante und sahen zu, wie Illium und Aodhan ihre ungewöhnliche Geschicklichkeit zur Schau stellten. »Haben Sie so etwas schon mal erlebt?«, erkundigte sich Elena bei dem Engel neben ihr, einem älteren Schwadronskommandanten, den sie an diesem Tag zum ersten Mal hatte lachen sehen.
»Das letzte Mal vor zweihundert Jahren.« Eine ernste, nachdenkliche Antwort, der allerdings gleich darauf ein lauter Jubelschrei folgte, als Aodhan den Ball, der tatsächlich im Wasser gelandet war, in letzter Sekunde wieder herausfischte, um ihn blind über seine Schulter hinweg hinter sich zu feuern. Das Wintersonnenlicht verwandelte Aodhans Körper und seine Flügel in einen einzigen, lebenden Diamanten.
Irre!, dachte Elena. In einer ihrer Hosentaschen vibrierte ihr Handy. Als sie es herauszog, zeigte es eine SMS von Sara an, aber auf die konnte sie sich momentan nicht konzentrieren, denn Illium fing gerade den von Aodhan geschleuderten Ball in letzter Sekunde ab, ehe dieser das Dach eines soeben eine nahe gelegene Brücke überfahrenden Wagens treffen konnte. Allerdings schien sich der Engel mit den blauen Flügeln anschließend auf direktem Kollisionskurs mit einem Bus zu befinden. Ein Stöhnen ging durch die Menge – bis Illium sich mit einer perfekten Kehrtwende durch die Stahlträger der Brücke hindurch gerettet hatte und sein nächster Wurf Aodhan so hart traf, dass er ein ganzes Stück zurückgeschleudert wurde.
Jetzt konnte sie sich Saras SMS ansehen.
Ransom nimmt Wetten an, wer von den beiden hübschen Jungs als Erster den Ball fallen lässt.
Elena grinste.
Okay, ich setze darauf, dass Illium gewinnt,
schrieb sie zurück.
Aodhan ist zu gut erzogen, und Illium kann heimtückisch sein, womit Aodhan nicht rechnet.
Wie es sich schließlich herausstellte, hatte sie unrecht: Aodhan schien Illiums Tricks in- und auswendig zu kennen – und andersherum auch. Das Ganze endete in einem Patt, als beide Spieler in den Turm zurückbeordert wurden. Bis dahin hatte die ganze Stadt mitbekommen, dass es in den Reihen der Engel hier einen außergewöhnlichen Neuen gab, weswegen die schreckenerregende Nachricht vom blutroten Hudson nicht mehr an erster Stelle stand. Bald sprach die ganze Stadt – nein, das ganze Land! – fast nur noch über Aodhan und natürlich auch über das Ballspiel.
Sämtliche Fernsehsender im Lande ließen ihre Sportkommentatoren die Spieltechnik der Engel erörtern, und überall wurde lang und breit darüber spekuliert, ob es ein Rückspiel geben würde. Die aus Manhattan stammenden Reporter genossen es, wieder einmal im Mittelpunkt zu stehen und beendeten jede Sendung mit der Aufforderung, man möge sich doch bald wieder einschalten, um neue Nachrichten über »unsere Engel« zu erfahren.
»Ich würde sagen, Illiums Plan ist voll aufgegangen, die Sache war ein Riesenerfolg«, schwärmte Elena später am Abend, als sie mit Raphael im großen Badezimmer ihrer Turmsuite allein war. »Und als Aodhan dann auch noch auftauchte … das hat dem Ganzen den letzten Schliff gegeben.«
»Er hat uns alle überrascht.« Raphael war wieder ganz der Alte, von der Fremdartigkeit, die ihn nach der Rotfärbung des Flusses überkommen hatte, fehlte bis auf den seltsamen Flüsternachhall, der sich noch manchmal in seine Stimme schlich, jedenfalls rein äußerlich jede Spur. »Warum sitzt du so weit von mir entfernt?«, erkundigte er sich jetzt. Er hatte es sich in der Badewanne mit den Ausmaßen eines kleinen Schwimmbeckens bequem gemacht und die Arme auf den gefliesten Rand der Wanne gelegt. »Ich versichere dir: Mich hat kein
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