Engelslied
war einfach zu groß, er schuf eine Kluft, die von keiner Seite aus leicht überbrückt werden konnte. Es sei denn, es lägen wirklich außergewöhnliche Umstände vor. Je länger sich Elena in der Welt der Unsterblichen aufhielt, desto besser verstand sie den Sinn dieser Kluft: Sie war ein Sicherheitsnetz. Ohne diese Kluft würden allzu viele Menschen allzu leicht den Tod finden.
So weit, so gut, aber dennoch gab es einiges zu bedenken. »Die Leute werden Angst haben, Raphael.« Elena fühlte sich verpflichtet, für die Menschen und gewöhnlichen Vampire der Stadt das Wort zu ergreifen, denn Raphael, der selbst als Kind nie schwach gewesen war, verstand schlicht und einfach nicht, wie hilflos man sich fühlte, wenn man nicht verstand, was um einen herum vor sich ging. »Wenn wir gegen diese Angst nichts unternehmen, sinkt die Moral der Stadt zu sehr, und um sie ist es seit dem Sturz ohnehin nicht gut bestellt.«
»Das findet Illium auch.« Raphaels Haut glühte mit einem feinen Unterton an Kraft, den Elena so noch nie bei ihm wahrgenommen hatte. Die Knochen in seinem Gesicht zeichneten sich schärfer als sonst ab, in seinen Augen loderte eine lebhafte Flamme, es fiel ihr schwer, ihn direkt anzusehen. »Er möchte für Ablenkung sorgen und bittet dabei um deine Mithilfe.«
Elena zögerte.
Raphael, du ziehst gerade diese Angst einflößende Erzengelnummer ab!
Er schüttelte sich den Schnee von den Flügeln, ordnete die Schwingen neu, stupste sie leicht am Kinn, während Aodhan sich diskret zurückzog. Elenas Haut kribbelte unter der Berührung, das Herz schlug ihr schmerzhaft gegen die Rippen: Raphaels Kraft pulsierte einem Energiestoß gleich in ihrem Blut. »Du bist stärker geworden!«, flüsterte sie, erleichtert, aber auch besorgt. Denn obwohl es sie freute, wenn ihr Gemahl stärker wurde – er musste ja stärker werden, es ging nicht anders, wenn sie den Krieg überleben wollten –, gefiel ihr die Kälte nicht, die er plötzlich ausstrahlte.
Vor ihr stand nicht mehr der Mann, der sie mitten im Kampf verspottet, der sie zum Tanz zwischen Wolkenkratzern mitgenommen hatte. Raphael war viel zu weit von ihr entfernt, zu distanziert, zu unmenschlich. Dabei gehörte er doch ihr, sie würde ihn nie irgendjemand anderem, irgendeiner unbekannten Kraft überlassen! Das schwor sie sich jedenfalls, als sie ihm die Hand an die Wange legte und spürte, wie seine Kraft in sie einsickerte, stark genug, um ihr den Atem zu rauben.
»Raphael.«
»In meiner Haut tobt ein Gewitter.« Er sprach leise, aber sein Flüstern hallte in ihr genauso wider wie die Stimmen, die sie vernommen hatte, als sie in seinen Traum eingedrungen war.
Unwillkürlich musste sie an die Schreie denken, die sie in Lijuans Stimme gehört hatte. Aber dies hier war anders. Dies hier ließ Elenas Haut kalt werden, was ganz und gar nichts mit dem Schnee zu tun hatte, der auf sie niederrieselte – nein, die Kälte erfasste sie durch ihren Kontakt zu Raphael, ließ sie aber trotzdem nicht erschrocken zurückweichen. Sie empfand keinen Abscheu, hatte nicht das Gefühl, etwas Böses sei im Gange. Sie spürte lediglich Kraft, Kraft und Macht in einem Ausmaß, das ihr trotz ihrer Erfahrungen mit den Erzengeln des Kaders unbekannt war. »Das Gewitter in dir stammt aus dem blutigen Fluss.«
»Ja. Ich habe gefühlt, wie es sich mit der heranrollenden Flutwelle aufbaute, und es wurde stärker, als meine Finger das Wasser berührten.« Immer noch flüsterte Raphael wie die Stimmen in seinem Traum, und als er sie küsste, drang die Eiseskälte seiner neu gefundenen Kraft Elena schmerzhaft tief in die Knochen. Aber sie ließ ihren Gemahl nicht los. Sie legte ihm beide Hände auf die Brust, ihre Liebe zu ihm loderte wie ein helles, leidenschaftliches Feuer.
»Ich spüre solche Angst in dir, Elena.« Raphaels Blick ruhte auf ihren Lippen, ehe er sie erneut küsste und die eiskalte Klinge, zu der er geworden war, ihr den Leib versengte. »Glaubst du denn, ich könnte dir Schaden zufügen?«
»Nein.« Inzwischen hatte sich das Eis wie ein Ring um ihren Brustkorb gelegt, sie musste nach Luft schnappen, als sie ihm die Arme um den Hals schlang. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Dazu besteht kein Grund.«
»Ach ja?« Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Das soll ich glauben? Obwohl deine Haut glüht und ich kurz davor bin, mich in einen verdammten Eiszapfen zu verwandeln?«
Da musste er lachen. Eine Brise spielte mit seinen Haaren, Schneeflocken fielen ihm von
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