Engelslied
Versprechen zu halten, aber jetzt konnte es bis zum ersten Schneefall wirklich nicht mehr lange hin sein. »Hast du irgendetwas von Aodhan gehört?«, erkundigte sie sich bei Raphael, der neben ihr flog.
»Nein, in der Stadt war es ruhig, seit …« Ohne seinen Satz zu beenden, blickte er aufmerksam auf den Hudson hinunter.
»Was ist?« Elena kam der Fluss völlig normal vor, aber Raphael besaß den durchdringenden Blick eines Raubvogels.
»Pass auf.«
Noch ehe er die Worte ganz ausgesprochen hatte, bildeten sich auf dem Wasser unter ihnen schlagartig hohe Wellen mit weißen Schaumkronen. Dicht an Raphaels Seite schaffte es Elena, im Flug anzuhalten, über dem Flussufer zu schweben, als sie sie kommen sah – eine unheimliche, dunkelrote Welle, die einer Flutwelle gleich den Fluss hinunterrollte. Eisengeruch lag in der Luft – bei Elena stellten sich die Nackenhaare auf. »Rieche ich Blut?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Raphael ließ sich auf das Wasser hinab, bis er das rote Nass mit den Fingerspitzen berühren konnte. Elena verharrte weiter oben, für solche Manöver hatte sie ihre Flügel noch nicht genug unter Kontrolle.
Raphael roch an seinen Fingern, schüttelte die roten Tropfen ab und stieg wieder zu ihr hoch. »Blut«, sagte er finster. »Aber kein reines Blut. Es ist verdünnt, und die Konzentration nimmt wohl auch schon ab.«
Und richtig: Die beiden konnten zusehen, wie sich das Wasser erst rosenrot, dann rosa, dann blassrosa färbte, bis schließlich nur noch das schlammige Braun des aufgewühlten Hudson selbst unter ihnen lag und sie den unverwechselbaren Blutgeruch nicht mehr wahrnehmen konnten. Als hätte es weder die Färbung, noch den Geruch je gegeben. Genau in diesem Moment setzte Schneefall ein, und zarte kalte Flöckchen wirbelten um Elenas Gesicht und ihre Flügel, senkten sich wie eine weiße Liebkosung, als ob sie die Erinnerung an das Blut auslöschen sollte, auf die Stadt.
»Was wir da gerade gesehen haben …« Fassungslos starrte Elena auf den Hudson. »Das ist doch eigentlich unmöglich.«
»Sprach Jessamy nicht von Blut, das während der letzten Kaskade vom Himmel fiel? Das hier scheint mir in eine ähnliche Kategorie zu gehören.«
»Und die Erzengel waren nicht, wer sie sein sollten, und Leichen verwesten in den Straßen, und Blut regnete vom Himmel, während Reiche in Flammen standen.«
»Himmel, Raphael!« Die Worte der Historikerin hallten in Elenas Kopf wider, bis er zu zerspringen drohte. »Es geschieht wirklich!« Es würde nicht einfach nur ein Krieg werden. »Es werden Ereignisse eintreten, die das Gesicht der Welt verändern.« Ihr Verstand vermochte das Ausmaß dessen, was ihnen bevorstand, kaum zu fassen.
Raphael nickte, während weiterhin um sie herum aus einem kristallklaren Himmel Schnee auf die Stadt fiel. »In den Stunden, die ich mit meiner Mutter verbrachte, hat mir Caliane mehr von der letzten Kaskade erzählt.« Über die unglaublich blauen Augen hatte sich ein Schatten gelegt.
»Am liebsten würde ich das alles gar nicht hören«, flüsterte Elena. Dabei wusste sie genau, dass man der Wahrheit nicht ausweichen konnte.
Ihr Erzengel richtete seine Flügel direkt auf den Turm. Sie selbst musste einen größeren Bogen fliegen, um ihm folgen zu können. »Das kannst du nicht mehr selbst bestimmen. Du bist die Gemahlin eines Erzengels.«
26
Aodhan erwartete sie auf dem Balkon vor Raphaels Turmbüro. »Sire, ich habe Leute ausgeschickt, um nach Anzeichen für durch das Ereignis verursachte Unruhen Ausschau halten zu lassen.«
Das Ereignis.
Aber wie sollte man es sonst nennen, wenn sich ein Fluss in Blut verwandelte?
»Aufkommende Panik konnte im Keim erstickt werden«, fuhr Aodhan fort. Er sah zum Fluss hin, in seinen Augen spiegelte sich bruchstückhaft ein Teil von Manhattan. »Aber das Ereignis ist bestimmt von einigen aufgezeichnet worden. Diese Aufnahmen werden kursieren, der Turm muss eine Erklärung abgeben.«
»Nein.« Raphaels Ton ließ keinen Widerspruch zu, in seinem Gesicht war von Menschlichkeit und Verstehen nichts mehr zu sehen. »Keine Erklärungen. Sag nur, es handele sich um eine Angelegenheit des Kaders. Wer auf weiteren Informationen besteht, soll sich direkt mit mir in Verbindung setzen.«
Na, prima, dachte Elena. Jeder, der dumm genug war, dieses Angebot anzunehmen, verdiente, was ihn erwartete. Die meisten Sterblichen wagten sich niemals ohne Grund in die Nähe eines Erzengels: Der Machtunterschied
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