Engelslied
ohne dich vorstellen.«
»Keine Sorge, so bald wird das schon nicht passieren!« Illiums wie immer umwerfendes Lachen ließ sämtliche Schatten auf seinem Gesicht verschwinden. Er streckte den rechten Flügel aus, um kurz über Elenas Flügel zu streichen. »Vergiss den kommenden Krieg. Der Turm würde ohne mich zusammenfallen.«
»Wie bescheiden du doch bist.« Elenas Lächeln verblasste, als sie sich wieder dem Vampir zuwandte. Der schlief fest und friedlich, würde aber wahrscheinlich nie wieder aufwachen – obwohl sie immer noch ein klein bisschen hoffte, dass Keir ihm helfen konnte. »Ein Erzengel, der Krankheiten erschaffen kann – was sagt das über ihn aus?«
»Die Antwort auf diese Frage kennst du selbst.«
Ja, unglücklicherweise kannte Elena die Antwort auf diese Frage: Macht korrumpierte, und oft nahm diese Korruption absolute und hässliche Formen an.
Prüfend musterte sie Illium, der sich neben dem Vampir niedergelassen hatte, um ihn sich genauer anzusehen. Wie schön er war, wie begabt, seine Flügel ein Teppich aus wunderbaren Blau- und Silbertönen auf dem grauen Beton. Wenn die Zeit kam und seine Macht zu ihrer vollen Stärke heranreifte, dann wünschte sie ihm jemanden an seine Seite. Jemanden, der sein Anker sein konnte, wie Raphael und sie es füreinander waren. Einen korrumpierten Illium mochte sie sich einfach nicht vorstellen.
Zwölf Stunden später starb der Vampir, ohne wieder aufgewacht zu sein. »Ein Segen für ihn«, meinte Keir, ehe er erneut die Stadt verließ. Er war gerade rechtzeitig eingetroffen, um das Opfer noch lebend untersuchen zu können. »Die Krankheit hatte sich in seinen inneren Organen festgesetzt, die Schmerzen wären unerträglich gewesen, hätte er das Bewusstsein wiedererlangt.«
Keir hatte den Mann noch ausführlich untersucht und dabei eine genetische Abweichung festgestellt, die den Betroffenen dem Virus gegenüber weniger anfällig sein ließ als andere, allerdings, wie sie ja alle hatten sehen können, nicht für vollständige Immunität sorgte. Wie er sich infiziert hatte, war nicht bekannt. Interessanterweise war er gerade von einer längeren Geschäftsreise aus China zurückgekehrt.
Raphael und Illium hatten Keir zum Jet begleitet und flogen jetzt zurück, Flügel an Flügel. »Wenn wir uns irren und doch Lijuan für diese Krankheit verantwortlich ist«, sagte Raphael, »dann nimmt ihre neue Kraft mit einer Geschwindigkeit zu, wie wir sie bei den anderen Veränderungen im Kader nicht beobachten können.« Was im Klartext bedeuten konnte, dass Lijuan unbesiegbar wurde.
»Vielleicht hat sie der Krankheit auch nur auf den Weg geholfen«, antwortete Illium, »indem sie ihrem Mitverschwörer freie Reise durch ihr Land gewährte.«
»Keine schöne Vorstellung, Tod und Krankheit Hand in Hand. Aber immer noch besser als die Vorstellung, Lijuan könnte als Einzige solch heimtückische Geschenke verteilen.«
Es hatte erneut angefangen zu schneien, die Welt unter den beiden Engeln lag unter einer dünnen Schicht Unschuld und Frieden. Aber der Schein trog, und selbst das nicht lange: In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages war ein Flugzeug auf dem Weg von Shanghai nach New York in San Francisco aus medizinischen Gründen zu einer Notlandung gezwungen, und der Pilot, ein Mensch, schickte über die Luftraumkontrolle eine dringende Bitte um Hilfe an den Turm.
Es war dem menschlichen Piloten zu verdanken, dass sich die Krankheit nicht über den Stahlbauch des Flugzeugs hinaus ausbreiten konnte: Er hatte bis zur Ankunft des Teams aus dem Turm niemandem das Betreten der Maschine gestattet. Wie sich herausstellte, waren alle siebzehn Vampire, die sich an Bord befanden, erkrankt, hatten Pusteln im Gesicht und grotesk verzerrte Gliedmaßen.
Die menschlichen Passagiere kamen achtundvierzig Stunden lang in Quarantäne, konnten danach aber wieder entlassen werden, weil eine gründliche Untersuchung keine Anzeichen einer Ansteckung zutage gefördert hatte. Die Vampire wanderten in medizinische Quarantäne, wo sie erst einmal auch verbleiben mussten.
Fünf Tage später fingen sie langsam an, sich zu erholen. Jeder von ihnen war nun laut Keir immun gegen die Krankheit, die erste gute Nachricht in dieser Frage. »Unser Gegner scheint ungeduldig geworden zu sein und hat es übertrieben«, sagte Raphael beim morgendlichen Training auf dem Rasen vor seinem Haus in der Enklave zu seiner Gemahlin. »Keir glaubt jetzt sogar, dass wir einen Impfstoff entwickeln können.
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