Engelslied
war unsterblich, er wusste, diesen Millionen würden Millionen andere folgen, sie ließen sich leicht ersetzen. Jetzt zählte nur noch diese Kraft. Er musste sie festhalten, formen, selbst zu dieser Kraft werden.
Finger drückten sich in seine Wange. Der silberne Ring um Elenas Iris leuchtete im Dunkel der Nacht wie flüssiges Feuer. »Nein.« Ein tödlich ruhig ausgesprochenes Wort. »Es darf dich nicht bekommen. Du gehörst mir.«
Ja, er gehörte ihr, das wusste er. Er schob seine Gemahlin beiseite, damit sie nicht hier, so dicht an dem geländerlosen Balkonrand, das Gleichgewicht verlor und stürzte, und schwang sich selbst hoch, hoch in den Himmel hinauf. Bis weit über die Wolken, weiter als andere Engel zu fliegen vermochten, selbst Illium und Aodhan hätten ihm hierhin nicht folgen können. Gleichzeitig erging an alle anderen Engel der Umgebung der Befehl, zu landen.
Als er sicher sein konnte, dass niemand am Himmel zu Schaden kommen würde, zögerte er noch einmal ganz kurz. Wollte er diese gewaltige Kraft wirklich verlieren? Aber dann setzte er die dunkle Materie in einem Gewitter frei, das den Himmel in zwei Teile schnitt.
Und Elena? Elena stand auf dem Balkon und hätte am liebsten laut geschrien. Sie wollte zu Raphael, das Verlangen nach ihm drohte ihr das Herz zu zerreißen, aber es ging nicht, es ging nicht. Wenigstens jetzt musste sie vernünftig bleiben, sie durfte sich nicht noch einmal blind von Gefühlen leiten lassen. Ihre Flügel würden den Aufstieg zu Raphael hinauf doch gar nicht schaffen, dazu waren sie in einem viel zu schlechten Zustand. Außerdem flogen da oben die Blitze nur so durch die Luft, zu viele, um ihnen ausweichen zu können.
Überall in der Stadt, selbst an den ungewöhnlichsten Stellen, konnte sie Engel landen sehen. Einige, die zu hoch in der Luft gewesen waren, ließen sich einfach auf die Erde fallen, versuchten, schneller zu sein als die zuckenden Blitze und schlugen erst in allerletzter Sekunde wieder die Flügel auf. Ein paar Mal wäre das um ein Haar schiefgegangen, aber es schien keine Verletzten zu geben. Jedenfalls nicht, soweit Elena es beurteilen konnte. Raphael hatte allen genug Zeit gelassen, hatte sie rechtzeitig gewarnt. Nur er selbst, ihr Erzengel, brannte im Zentrum dieses kalten, weißen Sturms.
»Ellie.« Illiums Hand lag in ihrem Nacken. Auch Aodhan stand jetzt neben ihr. »Der Sire hat eine weitere Fähigkeit hinzugewonnen.«
Nein, dachte Elena. Er hat gerade eine zurückgewiesen. Aber das sprach sie nicht laut aus.
Eine Stunde später war am Himmel kein einziger Blitz mehr zu sehen, und vor dem Balkon tauchte Raphael auf, um Elena die Hand entgegenzustrecken. Wortlos griff sie danach und trat an die Balkonkante. Im Flug trennten sich ihre Hände wieder. Seite an Seite flogen sie nach Hause, wobei Elena sich sicher sein konnte, dass ihr Gemahl sie keine Sekunde lang aus den Augen ließ und sie sofort aufgefangen hätte, wenn es erforderlich gewesen wäre. Aber ihr verletzter Flügel hielt durch, bis sie zu Hause angekommen waren und Raphael seine Heilkünste einsetzen konnte, um den Schaden zu beheben.
Halb hatte sie damit gerechnet, dass diese Heilung nicht kommentarlos vonstattengehen würde. Raphael hatte ja recht, wenn er sich aufregte, sie hatte sich mutwillig selbst gefährdet. Aber er schickte seine Heilkraft schweigend in sie hinein, wärmte sie damit wie mit einer Umarmung. »Jetzt ist alles wieder gut, Gildejägerin.« Warme Lippen pressten sich auf ihren Nacken.
Dieser Kuss wärmte ihre Haut noch mehr. Weiterhin in seinen Armen, drehte sie sich um. Die goldenen Flammen des Kaminfeuers hüllten sie beide in ihren Glanz. »Sprich mit mir, Erzengel!« Wenn sie die Tendenz hatte, sich abzuschotten und so zu tun, als spielten gewisse Dinge keine Rolle, dann hatte Raphael die Tendenz dazu, alles selbst in die Hand zu nehmen. Kein Wunder, immerhin war er ein Erzengel. Aber jetzt hatte er sie, jetzt musste sich einiges ändern.
Er ergriff eine Kristallkaraffe, die auf einem kleinen Tisch an der Wand stand, und schenkte sich bernsteingelbe Flüssigkeit in ein großes Glas, das er daraufhin in einem Zug leerte. Alkohol hatte auf Engel nicht dieselbe Wirkung wie auf Menschen und auf Raphael überhaupt keine, aber dem Erzengel gefielen der kleine Kick, die Hitze und der Geschmack. »Wenn das das Auftauchen einer neuen Kraft ist«, sagte er nachdenklich, während sich die Flammen in dem geschliffenen Glas widerspiegelten, »dann ist es eine, die
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