Engelslied
Elena unbekannten Sprache.
Mochten sie anfangs noch gehofft haben, die unnatürlich wirkenden Wolken könnten sich einfach auflösen oder hinaus auf das Meer treiben, so wurde diese Hoffnung zerschlagen, als sich die Düsternis direkt über der Barkasse festsetzte, um dieser zu folgen. Sekunden später senkte sie sich mit hoher Geschwindigkeit auf das Schiff, woraufhin sich die Crew laut schreiend in Sicherheit brachte. Elena und Raphael jedoch beobachteten weiterhin den Himmel.
So sahen sie als Erste, dass die »Wolke« über ihnen eigentlich gar keine Wolke war.
»Diesmal stürzen sie nicht.« Das allein unterschied dieses Ereignis von dem seltsamen Phänomen, mit dem alle Unbill der letzten Zeit angefangen hatte.
Während die beiden zusahen, landeten Hunderte, nein: Tausende Vögel um sie herum, bis die Barkasse sehr tief im Wasser lag, weil sie vollständig mit diesen winzigen geflügelten Wesen bedeckt war. Unheimlich war die Stille, in der diese Landung vonstattenging. Kein Vogel zwitscherte, keiner schien sich streiten zu wollen. Selbst dort, wo ein Vogel auf einem anderen hockte, war nichts zu hören. Das war an sich schon gruselig – noch unheimlicher jedoch war die Tatsache, dass jedes einzelne, winzige Augenpaar auf Elena und Raphael gerichtet war.
Nein – nein, nicht auf die beiden, nur auf Raphael.
Okay, das ist gruselig: Die starren dich an.
Oder irgendetwas starrt mich an.
Im nächsten Moment schwangen sich sämtliche Vögel, schwang sich die ganze Masse aus Flügeln auch schon wieder in die Lüfte, wo sie sich so schnell auflöste, dass Elena sich kaum vorstellen konnte, sie eben noch als zusammenhängendes Etwas gesehen zu haben. Bis sie Raphael ansah. Dessen Haut brannte vor kalter Energie, als glühe unter seiner Hautoberfläche ein kaltes, blaues Licht.
Komm, Gemahlin.
Das Herz schlug ihr schmerzhaft gegen die Rippen, als sie den stahlharten Ton in seiner Stimme hörte. Schweigend, ohne auf die neugierig starrende Crew zu achten, begab sich Elena in Raphaels Arme und ließ sich bis in eine gute Flughöhe tragen. Dort gab er sie frei. Immer noch schweigend flogen sie zum Turm, wo Aodhan auf dem Balkon vor Raphaels Büro auf sie wartete. In seinen Augen spiegelten sich, vielfältig gebrochen, die Lichter von Manhattan.
»Keine Toten, keine Verletzten«, meldete der Engel. »Keine Berichte über irgendwelche Zwischenfälle, nur eine unverständliche Botschaft, die von einer Barkasse auf dem Hudson stammt.«
»Danke, Aodhan.«
Elena wartete, bis der Engel gegangen war, ehe sie neben Raphael trat, der am Rand des Balkons stand und auf die nächtliche Stadt hinuntersah. »Erzengel?«
»Ja.« Er wandte sich ihr zu. Auf seinem Gesicht pulsierte das leuchtend rote Mal.
Wieder wirkte er distanziert, aber diesmal ließ ihm Elena dafür keine Zeit. Sie baute sich direkt vor ihm auf und küsste ihn. Seine Lippen schmeckten nach Meer und Dunkelheit, nach Dunkelheit, Kälte und Stille. Eine Stille, so schwer, so alt, als sei sie in Tausenden und Abertausenden von Jahren gewachsen, bis sie zu einem lebenden, atmenden Wesen geworden war.
Zitternd drängte sie sich dichter an ihn, presste ihren Busen an seine Brust, während er seine Hand tief in ihrem Haar vergrub. Erst nach dem leidenschaftlichen und doch so eisigen Kuss, bei dem sich auf ihren Brüsten ein Spinnennetz aus Raureif ausgebreitet hatte, sah sie es. »Deine Iris!« Dieses unglaublich überirdische Blau! »Deine Iris ist schwarz!«
»Eine vorübergehende Anwandlung.« Raphael spürte die Dunkelheit durch sich hindurchkriechen, eiskalt, mit einer starken, unbekannten Kraft getränkt. Sie sank in seine Zellen, ein Eindringling, den das Engelsfeuer in ihm zu eliminieren versuchte.
Er kämpfte gegen diese Eliminierungsversuche, gegen seine Instinkte, weil er wusste, er musste diese Kraft halten, besitzen – nur dass diese gerade drohte, ihn in Besitz zu nehmen. Schon fühlte sich sein Blut an, als bildeten sich darin Eiskristalle. Er sah die Welt wie durch einen Schleier, der ihn von ihr trennte, bis nur noch Elena in Farbe zu erkennen war. Lebhaft, sehr lebendig, mit den Flügeln einer Kriegerin stand sie, einer flammenden Fackel gleich, vor einem grauen Hintergrund. Der Rest der Welt bedeutete Raphael nichts mehr.
Wenn er diese Stadt auslöschen musste, um den Krieg zu gewinnen, dann wäre das nur eine Unannehmlichkeit, ein Problem, das sich hinterher leicht wieder beheben ließe. Millionen würden ums Leben kommen, aber er selbst
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