Engelslied
obwohl Elena seine Werbung damals vielleicht mit einem anderen Wort beschrieben hätte. Wie dem auch sein mochte: Ihre Worte gingen Raphael in letzter Zeit oft durch den Kopf. Er hatte nicht vor, zu sterben oder sein Gebiet einem anderen zu überlassen. Aber wenn es hart auf hart kam, wenn es nicht mehr anders ging, würde er lieber als der Raphael in die dunkle Nacht gehen, der eine Sterbliche geliebt hatte, und nicht als der Erzengel, den die Macht so verdorben hatte, dass er mit dem Wort Liebe nichts mehr anzufangen wusste.
»Ein Gutes hat die heutige Nacht ja.« Elena lehnte sich zurück, um Raphael ansehen zu können. »Nach deinem Gewitter fragen sich bestimmt all unsere Gegner, welche Kraft dir die Kaskade nun eigentlich beschert hat. Wer uns angreifen will, überlegt es sich jetzt vielleicht zweimal.«
»Möglich. Aber ich frage mich langsam, warum nicht bereits ein direkter Angriff gestartet wurde. Das bereitet mir ehrlich gesagt Kopfschmerzen.« Er und seine Leute hatten zwar nichts unversucht gelassen, um das Ausmaß des unter den Verteidigern der Stadt angerichteten Schadens nicht allzu öffentlich werden zu lassen, aber der Gegner oder die Gegnerin durfte eigentlich trotzdem davon ausgehen, den einen oder anderen bösartigen Schlag landen zu können. »Ich glaube inzwischen, dass sie auf irgendetwas warten. Auf etwas, das das Gleichgewicht der Kräfte im Fall eines Krieges nachhaltig und grundlegend verändert. Deswegen gehen sie das Risiko ein und lassen uns Zeit, uns vorzubereiten, statt aus dem bereits angerichteten Schaden sofort Kapital zu schlagen.«
»Raphael – tut mir leid, aber inzwischen brauche ich Montgomerys Kuchen ganz dringend.«
Der Erzengel musste lachen, und mit dem Lachen fiel unerwartet Licht auf das Dunkle in seiner Seele, hell und rein wie der Schnee, den er in ihrem Kuss schmeckte. Elena und er, sie würden zusammenhalten, das wusste er nun endgültig. Im Licht, und wenn es nicht anders ging, auch in der schrecklichen Dunkelheit.
31
Jasons Bericht am Mittag des nächsten Tages machte ihnen deutlich, womit sie bei Ausbruch der Feindseligkeiten zu rechnen haben würden. »Lijuan zieht ganz offen ihre Truppen zusammen«, teilte Raphael Elena mit, nachdem er den Bericht überflogen hatte.
»Und mit wie vielen müssen wir rechnen?«
»Sie verfügte schon immer über mehr Truppen als ich, einfach aufgrund ihres Alters.«
Lijuan war bisher überhaupt nur in ihrem Ehrgeiz gebremst worden, weil sämtliche Mitglieder des Kaders unter dem Strich mehr oder weniger gleich stark waren und sie in einem direkten Kampf ihr Leben riskiert hätte – so weit war Elena die Sache klar. Aber dieses Gleichgewicht der persönlichen Kräfte war nun eindeutig nicht mehr gegeben. »Besteht noch Hoffnung, dass sie es nicht auf New York abgesehen hat?«
»Nein.« Er wies auf einen schweren Bogen Papier, der in seiner Beschaffenheit an Rohseide erinnerte und handgeschöpft wirkte. »Kurz vor deiner Rückkehr von der Krankenstation hat mir Keir das hier gebracht.«
Elena konnte den Text des Schreibens nicht lesen, erkannte aber die uralte Engelssprache, die sie einmal in einem von Jessamys Geschichtsbüchern gesehen hatte. »Eine Kriegserklärung?«
»Genau. ›Zivilisiert‹ bis zum bitteren Ende.« Raphael widmete sich erneut dem Bericht seines Meisterspions. »Außerdem bestätigt Jason erneut, dass es keinerlei Hinweise darauf gebe, dass Lijuan jetzt Krankheiten erschaffen könne. Sie war nicht einmal in der Nähe von Amanat, als Kahla infiziert wurde. Das untermauert die Theorie von einem Mitverschwörer.«
»Wir bekommen es also unter Umständen nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei feindseligen Erzengeln zu tun.« Und die Krankenstation im Turm lag nach wie vor voller Verletzter, nur drei der betroffenen Kämpfer hatten sich bisher gut genug erholt, um wieder zu ihren Schwadronen stoßen zu können. Allerdings standen sie in der Stadt durch die Truppenverlegungen aus anderen Landesteilen kräftemäßig lange nicht so schwach da, wie Lijuan wahrscheinlich vermutete.
Letzteres war doch wenigstens endlich einmal eine gute Nachricht, fand Elena. Raphael nickte, als sie ihn an ihren Überlegungen teilhaben ließ. »Außerdem kämpfen wir auf vertrautem Terrain, was auch ein Vorteil ist«, sagte er. »Und Lijuans Streitkräfte müssen auf ihren Flügeln hier eintreffen. Ich rede mit Elias, prüfe, wie fest unsere Allianz im Ernstfall sein wird. Wenn er und seine Leute zu uns stehen,
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