Engelslied
mich wie ein ›Höhlenmensch‹ benahm, habe ich nicht versucht, mich umzubringen.« Raphaels Kuss war hart und besitzergreifend, gepaart mit heißem, weißglühendem Zorn. »Du musstest nicht mit ansehen, wie ich mich in Lebensgefahr brachte.«
30
Ihr zutiefst ungnädiger Gemahl flog Elena in seinen Armen den ganzen Weg nach Hause zurück.
Elena war der ganze Vorfall nur noch peinlich, nachdem ihre durch die Panikattacke verursachte Wut verrauscht war. Noch dazu fühlten sich ihre Flügel an wie aus Gummi und schienen sich am liebsten schmerzhaft aus ihrem Körper lösen zu wollen. Trotzdem, bestimmte Dinge waren undenkbar, angesichts der Tatsache, dass sie sich langsam Manhattan näherten. »Raphael? Du kannst mich nicht nach Manhattan tragen! Stell dir vor, Ransom sitzt gerade hinter seinem Superteleskop und sieht mich – das hält er mir noch an meinem siebenundachtzigsten Geburtstag vor!« In Wahrheit hatte sie Angst, von Feinden entdeckt zu werden, die ihre Reise in den Armen ihres Gemahls als Zeichen der Schwäche interpretieren könnten.
Raphael warf ihr einen finsteren Blick zu. Er hatte verstanden, worum es ihr eigentlich ging. »Keine Lügen, keine Halbwahrheiten, Elena. Kannst du dir vorstellen, allein zu fliegen? Ist es überhaupt möglich?«
Eine berechtigte Frage. Elena nahm sich die Zeit, den Zustand ihres Körpers genau einzuschätzen. »Ja. Solange wir es langsam angehen. Als wären wir auf einem Spazierflug.« Später würden ihr sämtliche Knochen wehtun, sollte ihr Erzengel beschließen, sie nicht zu heilen, um sie für ihre Sünden büßen zu lassen. Was sie durchaus auch verdient hätte. Aber ein paar Minuten langsamen Fliegens machten den Kohl jetzt auch nicht mehr fett.
»Dann halte dich bereit.« Raphael ließ sie ganz vorsichtig los und flog danach über ihr.
So konnte er sie sofort packen, wenn einer ihrer Flügel ihr den Dienst verweigerte.
Erzengel?,
fragte Elena leise.
Ja, Gemahlin?
Oh ja, er war immer noch verschnupft.
Ich will dir nur etwas sagen, was du wahrscheinlich nicht oft genug von mir zu hören bekommst.
Im Tiefflug passierten sie die George-Washington-Brücke. Jeder Nachtschwärmer, der jetzt noch unterwegs war, konnte ihnen dabei zusehen.
Ich liebe dich.
Das hat nie infrage gestanden.
Eine eisige Antwort, aber Elena musste lächeln. Nein, ihre Liebe hatte keiner von ihnen beiden infrage gestellt, sie nicht und Raphael auch nicht.
Ob Montgomery wohl Kuchen für mich hat?
Als Sterbliche hatte sie sich manchmal gefragt, warum man nie übergewichtige Engel zu Gesicht bekam. Jetzt wusste sie warum: Fliegen erforderte große Muskelkraft, jeder Flügelschlag verbrauchte Unmengen an Energie. Elena aß fünf Mal so viel, wie sie als Jägerin gegessen hatte, und schaffte es, so gerade mal ihr Gewicht auf halbwegs gesundem Niveau zu halten.
Hat man als Unsterblicher einen anderen Stoffwechsel?
Das hat noch nie jemand untersucht, soviel ich weiß. Aber dein Stoffwechsel arbeitet bestimmt schneller, weil bei dir die Unsterblichkeit ja erst in die Zellen hineinwächst.
Das klang logisch, fand Elena. In der Ferne färbte sich der Himmel schwarz, Gewitterwolken schienen aufzuziehen. »Raphael!«
Such dir sofort die nächste ebene Stelle und lande!
Rasch hatte Elena unter sich eine vorbeigleitende Barkasse entdeckt, auf der sie drei Sekunden später, dicht gefolgt von Raphael, landete. Die Crew sah dem Manöver mit weit aufgerissenen Mündern zu, kam aber nicht näher. »Ich habe mein Handy dabei.« Sie hatte es sich rein aus Gewohnheit in die Tasche gesteckt. »Ich kann Aodhan anrufen.«
»Schon geschehen.« Raphaels Blick verharrte unverwandt auf dem tiefschwarzen, düsteren Himmel vor ihnen. »Alle sich in der Luft befindlichen Engel erhielten den Befehl, umgehend zu landen.«
Elena standen langsam die Haare zu Berge. Sie rief Sara an. »Die aufziehenden Wolken könnten ein weiterer Zwischenfall sein«, warnte sie die Freundin. Als Leiterin der Gilde hatte Sara Zugang zu einem automatischen Warnsystem, das eine SMS an sämtliche Jäger der Umgebung verschicken konnte. »Sag ihnen, sie sollen … Mist! Sag ihnen einfach, sie sollen auf alles achten!«
»Verstanden.«
Elena schaltete das Handy aus und drängte sich dichter an Raphael, ohne den düsteren Himmel aus den Augen zu lassen. Auch die Crew hatte inzwischen gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Die Männer hatten den Kopf in den Nacken gelegt und diskutierten das Ereignis mit hohen, aufgeregten Stimmen in einer
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