Engelslied
hast du wirklich noch keine Ahnung.«
»Darf ich später mit dir tanzen?«
»Nur, wenn du mir ein paar Kirschen rüberreichst.«
Heute waren Marguerite und Elena allein in der Küche, aber auf dem Tisch lagen Belles Englischheft und ein Stift, als sei die Schwester nur kurz einmal nach draußen gegangen. »Mama, darf ich dich etwas fragen?« Elena zerschnitt die Kirschen weiterhin brav mit dem kleinen Messer, obwohl in ihren Armfutteralen weiß Gott erheblich längere und schärfere Klingen steckten.
»Meine süße Kleine! Natürlich darfst du deine Mama alles fragen.« Marguerites Augen blitzten, ihr Lächeln war strahlend. »Nicht so große Stücke, Elena, schneide die Kirschen kleiner.«
»Ja, Mama.« Elena konzentrierte sich eine Weile ganz auf ihre Arbeit. »So?«
»Perfekt!« Weiche Finger strichen über Elenas Wangen, dann wandte sich Marguerite wieder ihrer Rührschüssel zu. »Was wolltest du mich denn fragen?«
Elena mochte ihre Mutter nicht anschauen, als sie die Frage stellte, die sie jetzt schon mehr als ein Jahrzehnt lang verfolgte. Sie hielt den Kopf weiterhin über die Kirschen gebeugt. »Warum hast du Beth und mich verlassen?« Jetzt brannten ihr Tränen in den Augen, ihre Unterlippe zitterte. »Papa war ein gebrochener Mann. Du weißt, dass er nach deinem Tod ein gebrochener Mann war.«
»Gib mir die Kirschen, Kleines«, bat Marguerite. Gehorsam reichte ihr Elena die Glasschale und sah durch den Schleier ihrer Tränen, wie die Früchte in der Schüssel mit dem Teig landeten. »Du und deine Schwester, Elena, ihr seid lebende Teile meines Herzens. Im Moment eurer Geburt wurden mir diese Teile aus dem Herzen geschnitten.«
»Aber du bist gegangen!« Elenas Kopf flog hoch, sie schrie der Mutter ihre Anschuldigung entgegen. »Du hast uns verlassen!«
»Ich habe auch deine älteren Schwestern geliebt, bébé. Ich konnte den Gedanken an Ariel und Mirabelle, die so schrecklich allein im Dunkeln waren, nicht ertragen.«
Elena fuhr sich schluchzend mit dem Handrücken über die Augen. Die Brust tat ihr weh, so sehr musste sie weinen – wie ein kleines Kind. »Mir fehlen Ari und Belle! Du fehlst mir. Du hast Beth und mich allein gelassen, und nun ist niemand da, der Beth beibringen kann, Mutter zu sein.«
»Ich weiß. Oh, ich weiß.« Marguerite eilte um den Tisch herum und nahm das tränenüberströmte Gesicht ihrer Tochter in ihre weichen, mehlbestäubten Hände. »Aber du warst immer die Stärkste meiner Töchter, Elena, das habe ich dir doch schon gesagt. Selbst meine wilde Belle hatte ein so leicht verletzliches Herz. Aber meine Elena, meine Elena ist stark. Wie meine Mama. Wusstest du, dass sie auch Elena hieß?«
»Wirklich?«
Wenn Marguerite so lächelte wie jetzt, war sie die schönste Frau, die Elena je gesehen hatte. »Ja. Elena war ihr – wie sagt man?« Ein kurzes, unerwartetes Zögern im sonst so perfekten Englisch – wie gut sich Elena daran erinnerte. »Zu Hause wurde sie so genannt. Und von ihren besten Freunden.«
»Das wusste ich nicht.«
»Doch, du hast es gewusst. Ich habe dir Geschichten über meine Mama erzählt, damals, als meine kleine Beth in meinem Bauch Fußball spielte.« Wie flüssiger Honig rann ihr Lachen über Elenas Haut, süß und ein klein wenig wild. »Geschichten von meiner starken Mama für mein starkes Baby.«
Elena reckte das Kinn vor. Grauer Zorn mischte sich in das Glück, endlich wieder die Berührung ihrer Mutter spüren zu dürfen. »Ich dachte, du würdest dich nicht mehr an Grandma erinnern!«
»Ich erinnere mich an vieles.« Der Duft von Gardenien lag in der Luft, satt und voll, als Elena sich die feinknochigen Hände ihrer Mutter an die Wange legte.
»Ich habe euch an dem Tag verlassen, an dem das Monster in unser Haus kam«, flüsterte Marguerite. »Das weißt du.«
Elena erinnerte sich an die blutigen Streifen auf dem Teppich, die von den verzweifelten Versuchen einer Mutter herrührten, die ihren Kindern zu Hilfe kommen wollte. Erinnerte sich an den verstörten Blick in Marguerites Augen, als ihr klar wurde, dass ihre beiden Erstgeborenen für immer verstummt waren. Nein, Marguerite log nicht, sie war an jenem Tag zusammen mit Ari und Belle gestorben. Geblieben wäre nur eine leere Hülle. »Aber ich brauchte dich doch!« Elena wollte nicht nachgeben, sah die Wahrheit, wollte sie aber nicht sehen. Denn diese Wahrheit tat viel zu weh. »Du hättest dich doch wieder erholen können.«
»Ich wünschte, es wäre so gewesen,
azeetee
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