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Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
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Ein sanftes, liebevolles Wort in der Sprache der sonnengeküssten Insel, die Marguerite selbst nie gesehen hatte. »Aber ich war nie stark. Nicht wie du. Nicht wie meine Mama.« Sie küsste Elena auf beide Wangen, wie sie es so oft getan hatte, und sah ihr ernst in die Augen. »Kümmere dich um Beth. Und kümmere dich um meinen Mann. Ein Teil von ihm ist mit mir gestorben.«
    Elena schüttelte den Kopf, hielt die Handgelenke ihrer Mutter verzweifelt umklammert, wollte die geliebte Frau in dieser Welt festhalten. »Jeffrey hasst mich.«
    »Nein, Elena. Er liebt dich zu sehr.«
    Elena erwachte mit den Worten ihrer Mutter im Kopf. Im Zimmer schien immer noch der leise Duft von Marguerites Parfüm zu hängen. Noch wollte sie die Verbindung zu der Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte, nicht abreißen lassen. Also blieb sie erst einmal reglos auf dem Bett liegen. Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die offenen Balkontüren herein und wärmte ihr die Flügel. Ihr Vater liebte sie? Die Vorstellung war mindestens so seltsam wie der Anblick des Hudsons voller Blut.
    Natürlich hatte Jeffrey sie früher einmal geliebt. So wie er alle seine Töchter geliebt hatte. Sie erinnerte sich noch gut an seine warme, starke Hand, an die sie sich geklammert hatte, als sie von ihren toten Schwestern Abschied nahm. Alle Verwandten waren dagegen gewesen, ihr die Leichen zu zeigen, aber Jeffrey hatte sich durchgesetzt, hatte verstanden, warum Elena diesen Abschied brauchte. Sie musste mit eigenen Augen sehen, dass Ari und Belle in Sicherheit waren, dass das Monster sie nicht auch in Monster verwandelt hatte. Nur so konnte sie ihren Frieden wiederfinden – ihr Vater hatte das verstanden.
    Dabei war es ihm nicht leichtgefallen, sie auf diesem Gang zu begleiten, vor die zerstörten Körper seiner beiden älteren Töchter zu treten. Elena hatte die Tränen in seinen Augen gesehen, hatte sein schmerzverzogenes Gesicht noch heute manchmal vor Augen. Aber er hatte der Tochter, die noch lebte, gegeben, was sie brauchte. Und er hatte sie nie fühlen lassen, dass ihr Wunsch nach diesem Abschiednehmen falsch gewesen war.
    »Nicht weinen, Papa!« Elena erinnerte sich daran, wie sie ihm die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, als er sich zu ihr hinunterbeugte. »Ihnen tut jetzt nichts mehr weh.«
    Aber dieser Papa, der starke, liebevolle Papa, war Elena schon vor langer, langer Zeit abhandengekommen.
    Elena tastete mit den Fingern über ihre Wange, wo sie immer noch die Lippen ihrer Mutter zu spüren meinte. Ein bittersüßer Schmerz wühlte in ihrem Innersten. »Ich liebe dich, Mama!« Ja, sie liebte Marguerite – diese Liebe war genauso real wie die Wut, die sie angesichts der Entscheidung ihrer Mutter empfand.
    Es fiel ihr schwer, sich von den Erinnerungen loszureißen, aber langsam wurde es spät: Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon nach zwei war. Im Badezimmerspiegel suchte sie ein letztes Mal nach Spuren der Finger ihrer Mutter in ihrem Gesicht, aber wenn es sie dort gegeben hatte, dann waren sie wie Marguerite selbst in die Zeit entschwunden. Elenas Atem ging immer noch stockend, als sie sich die im Schlaf vergossenen Tränen abwusch und nach unten ging, um das Montgomery gegebene Versprechen einzuhalten.
    Sie hatte sich mit dessen köstlicher Mahlzeit eben mehr oder weniger herumgequält, als sich ihr Handy mit dem Hit einer Boyband meldete. Das war Eve, die Kleine hatte dafür gesorgt, dass ihre Anrufe bei ihrer Schwester angemessen angekündigt wurden. »Eve? Ich wollte eben zu dir kommen.«
    »Nicht Eve, hier ist Amy«, kam die überraschende Antwort.
    Elenas Finger erstarrten an dem Gurt, den sie gerade hatte festschnallen wollen. Gwendolyns ältere Tochter sprach nicht mit ihr. Wahrscheinlich aus Loyalität ihrer Mutter gegenüber, denn anders als Eve war Amy alt genug, zu verstehen, dass die Beziehung ihrer Eltern nicht so war, wie sie sein sollte – dass ihr Vater ihre Mutter nicht so liebte, wie er sie lieben sollte.
    Trotzdem liebte Amy ihren Vater, weswegen ihr niemand blieb, den sie für den Zustand der Ehe ihrer Eltern verantwortlich machen konnte. Außer Elena – und da Amy ein Teenager war und mit ihrer Wut irgendwo hinmusste, richtete sie sie gegen ihre Halbschwester. Elena machte das nichts aus, sie wusste, wie es war, ein solches Mädchen zu sein: verwirrt und traurig und wütend, alles zur selben Zeit. »Was ist?«, erkundigte sie sich vorsichtig, ahnte sie doch, dass Amy ihr Schweigen nicht ohne

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