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Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
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auf der kleinen Lichtung endete, in deren Mitte sich in einer natürlichen Senke das Miniaturfreilichttheater befand. Elena juckte es im Nacken. Sie war sich sicher, dass sie beobachtet wurden. Hier lag frischer Geruch in der Luft – aber niemand zeigte sich, die Schatten unter den Bäumen blieben schwarz und unbeweglich.
    Wässriges Blut. Eine Menge.
    »Ellie.«
    »Ich rieche es.« Sollte ein Toter in dem Theater liegen, dann noch nicht lange, denn die Aasvögel schienen das Festmahl noch nicht bemerkt zu haben. Man hörte sie jedenfalls nicht fressen. Oder die Vögel hielten sich aus einem bestimmten Grund fern … Jetzt roch Elena unter dem durch den Schneefall verdünnten Blutgeruch noch etwas anderes. Desinfektionsmittel mit einem Hauch Lilien …
    Mist.
    »Deacon?«
    »Alles klar, ich gebe dir Deckung.«
    Die beiden wechselten ihre Positionen, damit Elena in die kleine Senke hinabsteigen konnte, hin zu dem schrecklichen Anblick, der sich ihr dort bot. Sidney Geisman hatte seinen Kopf verloren. Wortwörtlich: Der Kopf steckte auf einem grob geschnitzten hölzernen Speer, der noch vor nicht allzu langer Zeit ein Ast an einem der umstehenden Bäume gewesen war. Die Augen des Vampirs waren zu roten, weit herausgetretenen Kugeln geworden, die Zunge hing ihm pechschwarz und grotesk angeschwollen weit aus dem Mund.
    Fliegen gab es nicht, dafür war es zu kalt. Unter dem Kopf war blutgetränkter Schnee von vielen Füßen zu Eis gestampft worden. Der Körper des Vampirs lag achtlos fortgeworfen in der Nähe des Kopfs. Das Blut war weit gespritzt, als man Sidney den Kopf abgeschlagen hatte. Sie entdeckten es überall auf den umstehenden Bäumen, wo es, zu einer übel riechenden braunen Paste erstarrt, noch gut zu erkennen war. Aber nicht alle Bäume im Umkreis hatten etwas abbekommen: Sidneys Exekution schien Zuschauer gehabt zu haben, die sich mit dem Blut des Hingerichteten hatten vollspritzen lassen.
    Elena atmete durch den Mund, wobei sie die Zähne fest zusammengebissen hatte. Das Durcheinander an Gerüchen hier in der Senke schien durch die Kälte seltsamerweise noch intensiviert. Aber es half alles nichts, sie musste dicht genug an den Kopf heran, um lesen zu können, was auf dem Schild stand, das man mit einer metallenen Nagelfeile an Sidneys Stirn geheftet hatte. Die Nachricht bestand aus einem einzigen Wort: KRANK
.
    Oh Scheiße. Verfluchte, elende Scheiße.
    Immer noch durch den Mund atmend, suchte Elena den Körper des Hingerichteten nach Anzeichen für die Vampirkrankheit ab. Es dauerte nicht lange, bis sie die verräterischen Pusteln an seinen Händen gefunden hatte. Sie waren noch klein, kaum herausgebildet. Die Infektion hatte sich also gerade frisch in seine Zellen eingenistet, als er umgebracht worden war. Was bedeutete, dass es in der Stadt inzwischen einen anderen Träger gab – es sei denn, Sidney hatte in Vorbereitung seiner Flucht infiziertes Flaschenblut gehortet.
    Raphael?
    Schweigen. Raphael hatte am Morgen gesagt, er würde die Stadt unter Umständen im Laufe des Tages verlassen, um sich mit einem seiner Engelkommandanten zu treffen – wahrscheinlich war er noch nicht zurück. Elena zückte ihr Handy und wählte die Nummer, unter der sie auf alle Fälle entweder Illium oder Aodhan erreichen würde.
    Aodhan ging an den Apparat. Da die Verbindung über Handy nicht abhörsicher war, fasste Elena sich kurz und teilte dem Engel lediglich mit, dass sie ihn im Bluttheater brauche. Aodhan fragte auch gar nicht erst weiter nach, versicherte ihr nur, er werde in ein paar Minuten dort sein.
    Gut, das war erledigt. Während sie auf Aodhan warteten, ging Elena um die Hinrichtungsszene herum, um möglichst viele Gerüche einzufangen, die ihr nützlich werden könnten.
    Aodhan kam bei einbrechender Dunkelheit, seine Flügel glitzerten heller als der Schnee. Elena brauchte nur wortlos auf das Schild auf Sidneys Kopf zu deuten, da hatte er das Ausmaß des Geschehenen auch schon begriffen. Die Vampire der Stadt wandten sich gegeneinander – wenn das so weiterging, könnte es sich zu einer waschechten Paranoia auswachsen, die niemanden verschonen und New York in blutiges Rot tauchen würde.
    Das war jedoch noch nicht einmal das dringendste Problem.
    »Könnte die Infektion über das verspritzte Blut weitergegeben worden sein?«, fragte Aodhan so leise, dass seine Worte nicht bis zu den Vampiren durchdrangen, die weiterhin im Schatten der Bäume standen, um die kleine Gruppe auf der Lichtung zu beobachten.

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