Engelslied
Diese Vampire würden bald feststellen müssen, dass ihnen der Fluchtweg abgeschnitten worden war. Aodhan hatte eine Schwadron Engel herbeordert und das Gebiet abriegeln lassen.
Elena sah sich das übel riechende Rostbraun an den Bäumen noch einmal genau an. »Kommt darauf an, ob es in den Mund bekommen ist oder über die Augen aufgenommen wurde. Groß ist das Risiko wohl nicht, denn ein Tropfen allein reicht nicht zum Infizieren, aber ein gewisses Risiko besteht schon. Die Zuschauer und die Scharfrichter scheinen verdammt dicht beieinandergestanden zu haben.« Und wahrscheinlich hatten sie Sidney angeschrien und sich gegenseitig angefeuert, mit weit offenem Mund. »Ein paar von den Leuten, die in den vergangenen Stunden hier waren, kann ich wohl aufspüren, aber wenn man bedenkt, wie er geschlagen wurde …« Elena deutete auf die zahllosen Schlagverletzungen, die die Leiche aufwies. »Wir müssen davon ausgehen, dass hier ein durchgedrehter Mob am Werk war.«
Aodhans Gesicht hatte harte Züge angenommen, so kannte ihn Elena gar nicht. Gespenstisch hell spiegelte sich der Schnee in seiner gesplitterten Iris. »Finden Sie so viele, wie Sie können. So schnell, wie es irgend geht.«
Elena, die die deutlichste Spur bereits herausgefiltert hatte, machte sich umgehend auf den Weg. Deacon gab ihr weiterhin Rückendeckung. Die Intensität des Geruchs verriet der Jägerin, dass hier ein Vampir wahrscheinlich bei Tagesanbruch aus dem Theater gelaufen war, Körper und Gesicht voll mit Sidneys Blut. Die Mischung aus Desinfektionsmittel und Lilien mengte sich gut erkennbar unter den eigenen, natürlichen Duft des Vampirs.
Seltsam war nur, dass er nicht hinaus auf die Straße gerannt war, sondern weiter in den Park hinein, wo sie ihn zehn Minuten später fanden. Er kauerte, über und über mit getrockneten, bröckeligen, erdfarbenen Blutspritzern bedeckt, im Schatten einer Eiche, die ihre Blätter bereits verloren hatte und die nackten, skelettartigen Zweige in einen irgendwie unpassend schönen, sternenklaren Himmel streckte.
»Sie haben ihn umgebracht.« Der Mann schaukelte auf seinen Fußballen hin und her. »Sie haben ihn umgebracht, sie haben ihn umgebracht.«
Elena kauerte sich neben den Vampir, allerdings mit genügend Abstand, falls er ihr plötzlich an die Kehle gehen wollte. »Wer hat ihn umgebracht?« Sie stellte die Frage ganz ruhig, ohne einen Funken Aggressivität im Ton.
»Sie haben ihn umgebracht, sie haben ihn umgebracht, sie haben ihn umgebracht.«
Elena wiederholte ihre Frage, wagte es sogar, den Vampir an der Schulter zu berühren, aber er hatte sich in seine ganz persönliche Hölle verkrochen, aus der er nicht mehr entkommen konnte.
Deacon und Elena warteten bei dem Mann, bis ein Team aus dem Turm kam, um ihn abzuholen. Dann kehrten sie zum eigentlichen Tatort zurück, wo es inzwischen von Turmleuten nur so wimmelte. Elena suchte sich die nächste vielversprechende Spur heraus. Eine halbe Stunde später erhielt sie eine Nachricht von Illium: Eine Freundin von Sidney hatte gestanden, den Flüchtigen mit Blut aus den Beständen ihres eigenen Gefrierschranks versorgt zu haben.
Er hat eine Flasche von
Blut und Günstig
getrunken, die noch aus der Zeit der ursprünglichen Virusträgerin stammte.
Fünf Stunden später hatte sie drei weitere Vampire entdeckt, die die blutige Hinrichtung mit angesehen hatten, beziehungsweise daran beteiligt gewesen waren, hinterher aber nicht im Park geblieben waren, um auch noch das Nachspiel zu genießen. Einer von ihnen war immer noch zu Tode erschrocken, der zweite gab sich trotzig. Als problematisch erwies sich der dritte: Er zeigte deutlich fortgeschrittene Anzeichen der Krankheit.
Elena verließ das Schlafzimmer, in dem der betroffene Vampir in seinem Fieberwahn laut mit den Zähnen klapperte und sah Deacon an, der auf dem Flur Wache stand. »Du solltest nach Hause gehen. Sara wartet bestimmt schon auf dich.« Sie wollte nicht, dass er noch mehr mitbekam. Deacons Verstand, Deacons Erinnerungen wollte sie nicht aufs Spiel setzen.
Der Freund warf ihr einen durchdringenden Blick zu. »Alles, was Sara weiß, weiß ich auch.«
»Du musst gehen, ehe du noch mehr erfährst.« Elena entschied sich, die einzige Waffe einzusetzen, die Deacon mit Sicherheit zum Einlenken bringen würde. »Zoe braucht dich. Lass die Finger von dem Unsterblichenkram, der dann in deine Familie sickern könnte.«
Deacon sah sie lange schweigend an, ehe er nickte. »Ruf mich einfach an, wenn
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