Engelslied
ging mit den Händen abzufangen. Als kurz darauf eine winzige blaue Feder neben ihr niederging, wusste sie, sie war nicht allein.
Eine Sekunde später landete Illium neben ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern, hüllte sie in seine Flügel. »Elena! Bist du verletzt?«
Wütend schüttelte sie ihn ab – sie spürte immer noch Jeffreys Finger auf ihrem Arm. »Wie lange folgst du mir schon?«
»Erst seit einer Minute. Es sah so aus, als würdest du die Landung nicht schaffen.«
»Nun, ich habe sie geschafft. Verschwinde. Geh!«
Die Worte taten ihr sofort leid, aber als sie sich entschuldigen wollte, ließ sich Illium bereits vom Balkon fallen. Wie hatte sie es nur so weit kommen lassen können? Wieso ließ sie sich von Jeffrey so auf die Palme bringen, dass sie ihre besten Freunde anschrie? Mühsam schleppte sie sich ins Wohnzimmer, wo sie, kaum war sie außer Sichtweite der Fenster, auf dem Boden zusammenbrach. Der Teppich drückte sich in ihr Gesicht, die Armbrust bohrte sich in ihre Hüfte. Kraftlos griff sie unter sich, schaffte es nur mit Mühe, die Waffe und auch ihren winzigen Flammenwerfer aus den Halftern zu lösen und neben sich zu legen.
Wenig später raschelte es leise hinter ihr. Also hatte sich Illium durch ihr Verhalten nicht beleidigt gefühlt, er war lediglich losgeflogen, um schwerere Geschütze zu Hilfe zu holen. »Gildejägerin.« Die Stimme des Erzengels von New York klang tödlich kalt. »Du hast dich an den Flügeln verletzt.«
»Zwei Senkrechtstarts an einem Tag.« Es fiel ihr schwer, den Fehler einzugestehen.
»Lieg still. Ich versuche, den Schaden zu beheben.«
»Lass nur, es geht schon!« Dabei ging gar nichts, es tat ungeheuer weh. »Die anderen …«
»Sind noch Wochen und Monate ans Bett gefesselt, ganz gleich, was ich für sie tue. Deine Dummheit kann ich unter Umständen jetzt sofort heilen.«
Wie bitte? Sein Ton war mehr als verletzend. »Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten!«
»Nein, das hast du in der Tat nicht getan, im Gegenteil. Stattdessen scheinst du dir die allergrößte Mühe gegeben zu haben, mir zu einer toten Gemahlin zu verhelfen, obwohl du doch eigentlich helfen wolltest, die Stadt zu beschützen, indem du öffentlich deine Stärke demonstrierst!«
Mit zusammengebissenen Zähnen schluckte Elena wortlos die in ihr brodelnde Wut hinunter. Sekunden später drang ihr eine bis in die Knochen reichende Wärme in die Flügelmuskeln, strahlte teilweise bis in die Knie hinunter aus, als hätten Raphaels Heilkräfte auch die feinen Risse in ihren Kniescheiben erkannt. Der Schmerz fing fast umgehend an zu verblassen, ein eindeutiges Indiz dafür, dass Raphaels neue Kraft allein im letzten Monat um einiges stärker geworden war. Nur diente diese Kraft friedlichen Zwecken, womit sie im krassen Gegensatz zu den aggressiven körperlichen Kräften stand, die sich inzwischen bei allen anderen im Kader manifestierten.
Weswegen sich diese neue Fähigkeit, zu heilen, unter Umständen paradoxerweise als tödliche Schwäche erweisen könnte.
»Es wird Krieg geben«, hatte Raphael ihr schon vor Wochen erklärt, als sie beide auf dem Balkon gestanden und zugesehen hatten, wie die mitternächtliche Dunkelheit die Finger nach ihrer Stadt ausstreckte, während die Nachtwinde begehrlich an seinem Haar zupften. »Bei einer Kaskade kommt es immer zum Krieg, das scheint nach allem, was wir wissen, unausweichlich zu sein. Entweder werden ein oder mehrere Mitglieder des Kaders wahnsinnig oder einer von uns erhält eine neue Kraft, die die der anderen vollkommen in den Hintergrund drängt, und versucht, die Herrschaft über die ganze Welt an sich zu reißen. Ich kann mir keinen Stillstand leisten. Ich kann es mir nicht leisten, nur über die Kräfte zu verfügen, die mir immer schon gegeben waren.«
»Deine neue Kraft hebt Lijuans Kraft auf«, hatte Elena geantwortet. »Und sie stellt die größte Bedrohung dar.«
»Aber das ist für einen Sieg nicht ausreichend. Und Lijuan mag die größte Bedrohung sein, ist aber beileibe nicht die einzige.« Die gradlinige Offenheit eines Mannes, der sein Gebiet jetzt schon ein halbes Millennium lang in Händen hielt. »Neha kann inzwischen Feuer und Eis erschaffen, Astaad beherrscht Gerüchten zufolge die Meere, und Favashi soll die Winde in ihrer Hand haben. Ich kann mir keinen Stillstand erlauben, wenn das Gleichgewicht im Kader erhalten bleiben soll.«
Seit dieser Unterhaltung nagten Schuldgefühle an Elena, die sich jetzt, da sie
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