Engelslied
schaffte sie, diesen Bruch würde sie heilen. »Solange wir keine genauen Hinweise haben, sollten wir vielleicht überall nachsehen, wo sich die Gilde sonst gern herumtreibt.«
»Das wollte ich auch gerade …« Ransoms Handy klingelte. Er kramte es aus der Tasche, warf einen Blick auf das Display und streckte Elena triumphierend den Daumen entgegen. »Sara hat mit Freunden von Darrell gesprochen und schickt uns hier eine Liste mit Orten, an denen er wohl gern rumhängt. Einer von seinen Kumpels war auch schon bei ihm in der Wohnung und hat sie durchsucht, aber nichts gefunden.« Ransom setzte sich die Sonnenbrille auf und leitete die Liste an Elenas Handy weiter. »Du nimmst dir die obere Hälfte vor, ich die untere. Wollen doch mal sehen, ob wir nicht doch irgendeine Spur erwischen. Ruf mich an, wenn du denkst, du hast ihn! So durcheinander, wie sein Kopf momentan ist, hat er vielleicht vergessen, dass wir seine Familie sind.«
»Ich ruf dich an, du rufst mich an, versprochen?« Ransom nickte brav. Rasch überflog Elena ihre Hälfte der Liste: ein Waffengeschäft, ein Bekleidungskontor, das sich auf Jäger und Polizisten spezialisiert hatte, eine Wohnung, die anscheinend von einer diskreten Prostituierten bewohnt wurde, und die New York Public Library. »Darrell liest wohl gern.« Irgendwie ließ das kleine, unerwartete Detail den Kollegen näher rücken, menschlicher werden.
»Ja. Hat immer ein Taschenbuch in der hinteren Hosentasche.« Ransom stülpte sich seinen Helm über, hockte sich auf das Motorrad, trat den Ständer nach hinten und startete. Schnurrend erwachte die große Maschine zum Leben. »Steig auf. Ich fahr dich zu einem Haus, von dem aus du losfliegen kannst.«
»Nein, danke. Ich müsste die Flügel öffnen, damit sie nicht am Boden schleifen, und als Nächstes fährt dann ein mies gelaunter Taxifahrer darüber.« Heute keine Flirts mit der Gefahr mehr, Elena wollte wirklich nicht zu einer Bodenexistenz verurteilt werden. Mal abgesehen von dem stocksauren Erzengel, den sie dann am Hals hätte.
Ransom ließ breit grinsend den Motor aufheulen. »Mach schon, Ellie! Ich wette, der Verkehr kommt zum Erliegen, wenn wir so losbrettern!«
»Sorg dafür, dass du gut sichtbar bist.«
Wahrscheinlich hatte Raphael bei diesen Worten nicht gerade an Motorradspritztouren gedacht, und sowieso war Ransoms Vorschlag bestimmt eine komplett schlechte Idee … aber ein verdammt guter Publicitycoup war es auch. Die Stadt bekäme endlich mal wieder etwas zu sehen, worüber alle herzlich lachen konnten.
»Sie sollten Motorräder für Engel bauen!«
Wo kam das denn jetzt her? Die Erinnerung traf Elena wie ein Fausthieb: Der junge Engel, der diese Worte gesprochen hatte, war tot, lag auf einer blumengeschmückten Bahre, die wohl kurz nach Sonnenuntergang die Zufluchtsstätte erreicht haben würde. Als er sie aussprach, war er noch höchst lebendig gewesen und hatte mit baumelnden Beinen neben seinem Freund auf einer Balkonkante gehockt, ohne zu ahnen, dass Elena ihn hören konnte. Damals hatte sie lächeln müssen – heute stimmte sie die Erinnerung nur noch traurig.
Das ist für dich!, dachte sie und schwang sich hinter Ransom auf die surrende Maschine. Allerdings ohne sich zu setzen, denn dann hätten ihre Flügel den Boden berührt: Sie stand auf den Fußstützen und hielt sich mit den Händen an Ransoms Schultern fest. Trotzdem musste sie die Flügel ein klein wenig ausbreiten, damit sie nicht in die Speichen des Hinterrads gerieten, aber das war einfacher, als sie gedacht hatte. »Ich muss die Flügel öffnen, das bremst wahrscheinlich ziemlich. Richte dich darauf ein.«
»Mit meiner Süßen hinten drauf hab ich ähnliche Probleme, Mädel. Bin dran gewöhnt.« Und schon pfiff ihr der Wind um Ohren und Flügel, als Ransom eine schnittige Kehrtwende hinlegte, um unter den aufgeregten Blicken der Passanten die Straße hinunterzudröhnen. So viele aufgerissene Münder hatte Elena schon lange nicht mehr gesehen. Lachend warf sie den Kopf zurück, genoss die Fahrt, wie auch der junge Soldat sie genossen hätte, der nun nie eine solche Chance bekommen würde.
Als Ransom in einer stillen Straße sein Fahrzeug an der Rückseite eines älteren Gebäudes geschickt und vorsichtig halten ließ, hatten die beiden fraglos jede Menge Eindruck geschunden. »Haut das hin?« Er deutete mit dem Kinn auf die Feuerleiter, die außen am Haus bis hinauf aufs Dach führte.
»Auf jeden Fall.« Elena sprang ab und prüfte ihre
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