Engelslied
Ledersessel vor dem Kamin Platz zu nehmen, und goss ihm den Tee ein, von dem sie wusste, dass er ihn gerne trank. Illium hatte derweil einen Teller mit Essen zusammengestellt und wurde ungehalten, als der Heiler ihn zurückweisen wollte. »Du musst etwas essen!«
Keir brachte noch nicht einmal eine Antwort zuwege. Er wirkte zu Tode erschöpft, seine Augen hohl und kalt, von der Wärme, die sonst darin glomm, war nichts mehr zu entdecken.
So ging das nicht, Keir musste unbedingt etwas in den Magen bekommen. Elena hatte nicht vor, so schnell aufzugeben. Sie nahm Illium den Teller aus der Hand, bedeutete dem Blaugeflügelten, er solle sich erst einmal mit Raphael unterhalten, stellte die Teetasse auf dem Tischchen neben dem Sessel des Heilers ab und setzte sich ihm gegenüber ebenfalls in einen Ledersessel. Dann belegte sie einen Kräcker mit köstlichem Weichkäse. »Bitte, Keir, iss!«
Sein Blick streifte sie nur kurz, aber immerhin nahm er ihr den kleinen Bissen aus der Hand. »Dann will sich heute die Patientin um den Heiler kümmern?«
»Reine Selbsterhaltung. Diese Patientin weiß, wie sehr sie dich braucht, wenn sie wieder einmal verletzt werden sollte.«
Endlich ein Schimmer in den müden Augen. »Und wenn ich das jetzt nicht esse?«
»Ein gewisser Heiler hat einmal behauptet, ich sei stur wie ein Maulesel.« Das war damals als Kompliment gemeint gewesen, Keir hatte die Freude an Elenas Fortschritten nicht verbergen können.
Die schönen Lippen verzogen sich unmerklich, ehe Keir brav seinen Kräcker aufaß und sogar noch einen zweiten nahm. Nach und nach drängte ihm Elena noch ein paar Kräcker, ein Stück Fladenbrot und sogar einen Pfirsich auf, den sie sorgfältig in kleine Stücke schnitt. »Weißt du noch, wie du das einmal für mich getan hast?«, fragte sie. »Ich habe mich gelangweilt und war schlecht gelaunt, weil du meintest, ich müsste noch eine ganze Weile im Bett bleiben.« Die Nachwehen von Lijuans Ball. »Bälle werden einfach überbewertet, man sollte sie verbieten.«
Der letzte Satz bescherte ihr sogar ein leises Lachen. Gehorsam verzehrte Keir ein Stück Pfirsich nach dem anderen, während Illium und Raphael drüben an Raphaels Schreibtisch standen, wo sie sich leise über die Löcher in ihrer Verteidigungslinie unterhielten. Der Widerschein der Flammen im Kamin brach sich an Raphaels Flügeln, und da die silbernen Handschwingen an den Flügeln des Glockenblümchens das Licht ebenfalls einfingen, war der Unterschied zwischen beiden nicht zu übersehen.
»Weißes Feuer.« Keir wirkte sehr interessiert – er war wieder ganz bei sich und bei den anderen. »Außergewöhnlich!«
Im flackernden Licht der Flammen wirkten Raphaels Flügel, als bewegten sie sich. Dabei stand der Erzengel einfach nur da.
Keir ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. »Das habe ich bei anderen aus dem Kader nicht beobachten können.«
Nur mühsam vermochte Elena den Blick von Raphael zu lösen und ihre Antennen in andere Richtungen auszufahren. »Weißt du etwas über die Veränderungen bei Michaelas Kräften?«
Keir schüttelte den Kopf. »Sie vertraut mir nicht. Dabei weiß sie genau, dass ich meinen Eid als Heiler nie brechen würde. Allerdings mochte ich Raphael immer schon lieber als sie.« Er setzte seine Teetasse ab und sah Elena an, wieder mit seinen eigenen, alten, weisen Augen. »So wie ich die Gemahlin gernhabe, die ihn vor den grausamen Aspekten der Unsterblichkeit bewahrt.«
Elena räumte den Teller beiseite, auf dem sie den Pfirsich geschnitten hatte. Ein kurzer Blick: Raphael schien immer noch in seine Unterhaltung mit Illium vertieft. Sie beugte sich vor. »Lijuan hat ihn damals vor mir gewarnt. Ich würde ihn ein klein wenig sterblicher werden lassen.«
»Was du auch getan hast.« Aus Keir sprach kein Tadel, nur Gelassenheit. »Und jetzt fürchtest du, du könntest ihn geschwächt haben? Ja, auch das hast du getan.«
Elena zuckte zusammen.
»Elena.« Keir wartete geduldig, bis Elena ihn wieder ansah. »Selbst ein Erzengel braucht eine Schwäche – absolute Macht korrumpiert. Wofür Lijuan das perfekte Beispiel ist.«
Keir mochte ja recht haben, aber wenn Raphael Lijuan und ihresgleichen besiegen wollte, musste er stark sein, nichts anderes. Daraufhin wollte Elena den Heiler gerade hinweisen, als das Rascheln von Flügeln näher kam. Die beiden am Kamin waren nicht mehr unter sich, Illium und Raphael hatten sich zu ihnen gesellt.
Der Erzengel verschwendete weder Zeit noch Worte.
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