Engelslied
der großen Schlacht gegen …« An dieser Stelle unterbrach er sich kopfschüttelnd. »Nein, die Geschichte erzähle ich euch ein andermal. Sie ist viel zu lang und interessant, um aus Zeitmangel radikal gekürzt zu werden.«
Fasziniert wartete Elena darauf, was als Nächstes kommen würde.
»Eli«, sagte Keir in das neugierige Schweigen hinein, »hatte gerade den letzten Feind vom Himmel geholt und sein Schwert erhoben, um den Sieg zu verkünden, als es geschah: eine Himmelfahrt, urplötzlich und total, die ihn laut schreiend hoch in den Himmel aufsteigen ließ. Sie war außergewöhnlich, wie alle Himmelfahrten es sind, aber das ist längst noch nicht alles. Als er aus dem Himmel zur Erde zurückkehrte, war er kein General mehr, sondern ein Mitglied des Kaders.«
Raphael sprach aus, was Elena dachte: »Er war Calianes General.«
»Ja. Wenn du ihn also nicht verrätst … er seinerseits wird dich nie als Erster verraten. Er hätte deine Mutter in ihrem Wahnsinn gejagt, hätte sie sich nicht in den Schlaf zurückgezogen, aber es hätte ihm keine Freude bereitet. Denn er hat den Eid nie vergessen, den er ihr einst schwor: ihr und allen, die von ihrem Blut sind, nie Schaden zuzufügen.«
»Caliane hat ihn nie erwähnt.«
»Hast du sie denn nach ihm gefragt?« Ein verschmitztes Grinsen. »Du weißt, wie alt sie ist. Gut möglich, dass sie immer noch nicht recht begreift, dass du und Eli jetzt Ebenbürtige seid. Er war Erzengel, ehe du zur Welt kamst, und in ihren Augen …«
»Bin ich immer noch ein Kind.« Raphael fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. »Ich wünschte, du hättest mir schon früher von Elias’ Vergangenheit erzählt. Bestimmte Verhandlungen wären dann weitaus weniger angespannt verlaufen.«
Keir stand auf, um sich noch eine Tasse Tee einzuschenken. »Du bist der Sohn deiner Mutter, Raphael. Du musstest dich selbst dazu entscheiden, Elis Freundschaft anzunehmen. Vorher hätte meine Geschichte nichts genutzt.«
»Zwischen Tod und Seuche gibt es kaum einen Unterschied«, sagte Illium in das nachdenkliche Schweigen hinein, das sich über den Raum gelegt hatte. »Lijuan gehört nach wie vor zum engeren Kreis unserer Verdächtigen.«
Raphael starrte nachdenklich in die Flammen. »Nicht, was den Sturz betrifft«, sagte er schließlich. »Ein Akt von solchen Ausmaßen erfordert doch sicher, dass sich der Täter in der Nähe befindet. Laut Jason war Lijuan aber zu der Zeit in ihrem Territorium und hat sich mit ihren Wiedergeborenen beschäftigt. Bei den Vampirpocken sieht es anders aus: Da brauchte sie nur einen Träger der Krankheit zu uns zu schicken.«
»Und das hätte sogar ein Sterblicher sein können.« Keir hatte sich wieder gesetzt. »Meine Fähigkeiten sagen mir, dass die Krankheit durch das Blut weitergegeben wird. Ein Blutspender wäre am ehesten in der Lage, möglichst viele zu infizieren.« Er runzelte die Stirn. »Andererseits: Falls das so wäre, müssten wir eigentlich weitere Leichen gefunden haben. Der Vampir in der Villa war schon mindestens zwei Tage tot.«
»Die Opfer vermodern wahrscheinlich irgendwo in ihren Häusern«, sagte Illium leise. »Wenn der Tod doch nach so kurzer Zeit schon eintritt.«
Eine grässliche Vorstellung! Elena war fast froh, als Montgomery in der Tür auftauchte und sie ansah. »Gildejägerin!«, sagte er, nachdem sie sich bei den anderen entschuldigt hatte und zu ihm hinübergegangen war. »Hier ist ein dringender Anruf der Gildedirektorin.«
»Danke.« Sie nahm das schnurlose Telefon, das er ihr hinhielt.
Zehn Sekunden später drehte sich ihr der Magen um. Weil Ransom weitere Leichen gefunden und Illium recht behalten hatte: Sie waren in ihrem Haus eingeschlossen gewesen, wo sie langsam vor sich hin moderten, nachdem ihnen eine heimtückische Seuche die Hoffnung auf Unsterblichkeit genommen hatte.
Knapp eine Stunde später landeten die vier, die sich gerade noch an Elenas Kamin unterhalten hatten, auf der winzigen Auffahrt eines heruntergekommenen Hauses in einem eher weniger mondänen Teil der Bronx. Ransom, der draußen auf sie gewartet hatte, führte sie wortlos ins Haus, die Miene hart und besorgt. Warum er nichts sagen mochte und die Zähne so fest zusammenbiss, dass sich die Wangenkochen fast durch die Haut drücken wollten, wurde Elena in dem Moment klar, als sie die Schwelle überschritten hatte. In dem Haus war wohl die ganze Zeit die Zentralheizung gelaufen, der Geruch nach Krankheit und Verwesung hing schwer in der Luft.
»Wie
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