Engelslied
viele?« Um Raphaels Flügel hatte sich ein tödlicher Schimmer gebildet.
»Fünf. Sie sind seit mindestens zwei Tagen tot.« Ransom wandte sich nach links, wo sich ein Schlafzimmer zu befinden schien, während Keir und Illium sich den anderen Teil des Hauses vornahmen. »Ich habe die Heizung abgestellt und die Fenster geöffnet, um den schlimmsten Gestank loszuwerden.«
Warum findet immer ausgerechnet Ransom diese Leichen?
Der Verdacht in Raphaels Ton war nicht zu überhören. Verwundert blickte Elena ihn an – ihren Liebsten, der nie sterblich gewesen war, der Sterbliche anders sah, als sie es tat.
Komm bloß nicht auf irgendwelche abwegigen Ideen,
antwortete sie.
Ransom ist auf der Straße groß geworden, er hat immer noch all seine alten Kontakte. Die reden mit ihm, erzählen ihm alles Mögliche. An jemanden aus dem Turm oder andere Jäger der Gilde würden sie sich nie wenden.
»Wer hat die Leichen entdeckt?«, erkundigte sich Raphael laut.
Ransoms Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Ich. Habe einen Tipp bekommen, hier würde es stinken, bin der Sache nachgegangen, habe den Geruch wiedererkannt und bin eingebrochen.«
Er lügt.
Er schützt jemanden.
Das tat Ransom nun einmal, wenn es um seine alten Straßenkontakte ging. Die Leute waren für ihn ebenso Familie wie die Gilde.
Das alles hier darf sich nicht herumsprechen, Elena, das kann ich nicht gestatten. Eine Panik wäre unvermeidbar. Entweder Ransom spuckt aus, wie es wirklich war, oder ich beschaffe mir die Informationen aus seinem Bewusstsein.
Elena packte die Klinge fester, die sie beim Betreten des Hauses in ihre Hand hatte gleiten lassen.
Er ist mein Freund.
Ich vertraue Ransom, ich glaube, dass er den Mund hält.
Das Meer klar und hell, der Wind darüber aus reinem Eis.
Aber ich vertraue denen nicht, denen er vertraut.
Und wenn ich dich bitte, es auf sich beruhen zu lassen?
Das kann und werde ich nicht tun.
13
Raphaels Antwort kam knapp und unverblümt, bösartig fast schon in ihrer Kürze, fand Elena. Und sie? Sie war hilflos, konnte den Freund nicht beschützen, an dem ihr so viel lag. Sie hielt Ransom an der Tür zum Schlafzimmer auf. »Du musst die Wahrheit sagen.« Jedes Wort schmerzhaft wie eine Rasierklinge in ihrer Kehle. »Wer hat die Leichen gefunden?«
Ransom schüttelte den Kopf, reckte eigensinnig das Kinn vor. »Wenn ich das sage, könnte diese Person selbst zum Opfer werden.«
»Ich werde dem Zeugen diese eine Erinnerung nehmen, nur diese, und ihm keinen Schaden zufügen.« Raphael war neben Elena getreten. »Er oder sie wird weiterleben, sich aber an nichts erinnern, was diesen Abend betrifft.«
Ransom sah Elena an. Er hatte verstanden: Wenn er ihre Frage nicht beantwortete, würde sich Raphael die Information auch so beschaffen.
»Tut mir leid«, sagte sie, auf einen Wutausbruch gefasst.
Aber Ransom zuckte lediglich die Achseln. »Er ist ein Erzengel, Elena. Für ihn sind wir nur Ratten.«
Sie wusste, er hatte es nicht böse gemeint, hatte sie eigentlich nur trösten wollen, aber dennoch trafen seine Worte sie hart. Wie wenig Macht sie doch hatte, was ihre Beziehung betraf, wie wenig Einfluss. Eigentlich hätte sich Raphael immer über sie hinwegsetzen können, aber sie hatte sich daran gewöhnt, dass er ihr eben doch zuhörte und auch auf sie hörte, wenn sie in der Lage war, ihren Standpunkt überzeugend zu vertreten. Ein einfaches Nein, das keinen Spielraum für weitere Verhandlungen ließ, hatte sie hier nicht erwartet.
Die Erkenntnis traf sie hart, ließ sie taumeln, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige verpasst. Ransom dagegen blieb nüchtern. »Sie rühren ihre anderen Erinnerungen nicht an?«
»Das Wort eines Erzengels infrage zu stellen kommt einem Selbstmordversuch gleich.«
Raphael, hör sofort auf!
Immer noch aufgebracht, hielt Elena dem Blick aus Ransoms grünen Augen doch stand. »Er will nur diese eine Erinnerung«, versicherte sie dem Freund.
Lass mich hier nicht als Lügnerin dastehen!,
fügte sie an Raphaels Bewusstsein gerichtet hinzu.
Eine unheilschwangere Pause.
Auch du stellst mein Wort infrage?
Ransom hat recht: Für dich sind wir nichts als Ratten.
Du gehörst zu keiner Gruppe, du bist meine Gemahlin.
Ehe sie antworten konnte, meldete sich Ransom zu Wort. Und das war gut so, denn das, was Elena hatte sagen wollen, hätte den hässlichen Streit zwischen ihr und Raphael nur noch weiter angefacht.
»Cici, weiter unten in der Straße«, erklärte der Jäger, »ist hergekommen,
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