Engelslied
»Was hast du herausgefunden, Keir?«
»Bei der Krankheit, die den Vampir getötet hat, handelt es sich um so etwas wie Pocken.«
Elena schnappte erschrocken nach Luft, während Illium sich an die Armlehne ihres Sessels lehnte, seine Augen leuchteten im Feuerschein wie flüssiges Gold. Warm streiften seine Flügel ihre eigenen. »Die Seuche, die früher Zehntausende Sterbliche dahinraffte?«
»Ja.« Keir hob die Hand, ehe einer der anderen etwas sagen konnte. »Es ist nicht die gleiche Krankheit«, fuhr er fort. »Die Seuche, mit der wir es hier zu tun haben, hat eine verheerende Wirkung auf die inneren Organe, verwandelt sie praktisch in Flüssigkeit. Aber sie scheint ebenso ansteckend zu sein wie Pocken. Die Übertragung läuft denkbar einfach, mehr als ein, zwei Tropfen Blut scheinen nicht nötig zu sein, um jemanden zu infizieren. Vielleicht auch eine kleine Mahlzeit – ganz sicher bin ich mir da noch nicht.«
Raphael schüttelte den Kopf. »Um gute Neuigkeiten zu bringen, wärst du in deinem Zustand nicht hier herausgeflogen. Du gehst eher von sehr geringen Blutmengen aus.«
»Du kennst mich lange und gut.« Der Heiler holte tief Luft. »Meine Tests zeigen, dass die Inkubationszeit sechs Stunden beträgt. Danach scheint sich die Krankheit mit heimtückischer Geschwindigkeit zu entwickeln. Das von mir untersuchte Opfer hat wohl erst bemerkt, dass es krank war, als es schon zu geschwächt war, um Hilfe zu holen. So schrecklich das für ihn gewesen sein mag – im Grunde ist es gut.«
»Weil er höchstwahrscheinlich keine Zeit hatte, andere anzustecken?«, fragte Illium.
Keir nickte. »Schlecht ist allerdings, dass diese Pocken allem Anschein nach entwickelt wurden, um Vampire anzugreifen.« Er wandte sich Raphael zu. »Deine Instinkte haben dich nicht getrogen. Ich spüre eine Absicht hinter dem Ausbruch dieser Krankheit. Sie ist nicht natürlich entstanden, hier war Verstand am Werk.«
»Erst fallen meine Engel vom Himmel, und nun das.« Raphaels Gesicht wurde hart und brutal. »Unsere Stadt wird angegriffen, daran kann kein Zweifel mehr bestehen.«
Illium sagte etwas in einer Elena unbekannten Sprache, aber seine letzten Worte klangen klar und verständlich und deckten sich absolut mit dem, was Elena selbst gerade auf der Zunge lag: »Elende Feiglinge!«
»Das sehe ich auch so.« Raphaels Stimme war pures Eis. »Bisher haben wir uns auf Lijuan konzentriert, aber wir dürfen in dieser Angelegenheit keine Scheuklappen tragen.«
Alle nickten.
»Das Vorgehen war feige, da sind wir uns einig«, fuhr Raphael fort. »Titus kommt somit als Verantwortlicher nicht infrage. Er ist ein Krieger, und zwar im ursprünglichen Sinn dieses Wortes, und wenn es keine Anzeichen dafür gibt, dass Wahnsinn seinen Verstand trübt …«, ein rascher Blick hinüber zu Keir, der den Kopf schüttelte, »… dann würde er sich für solche Manöver hart an der Grenze für das im Krieg Erlaubte nicht hergeben.«
»Astaad liebt Geheimnistuerei«, sagte Keir leise, »aber die Ehre ist ihm heilig, und ich glaube, das Vorgehen gegen deine Stadt, Raphael, wäre ein Flecken auf der Ehre dessen, der es veranlasst hat. Astaad schämt sich immer noch sehr dafür, wie gewalttätig er seiner Konkubine gegenüber wurde, als deine Mutter erwachte. Dabei wissen wir doch alle, dass er zu dieser Zeit nicht bei Verstand war.«
»Neha ist zu sehr damit beschäftigt, ihre Zwillingsschwester in Schach zu halten, sie kann sich nicht auch noch mit uns befassen.« Elena las jeden Bericht, den Jason schickte, gleich nach dem Eintreffen. Der Erzengel von Indien trauerte immer noch sehr um ihre Tochter, die exekutiert worden war, und Elena fürchtete, diese Trauer könnte Schlimmes bei ihr auslösen. »Ist Elias so doppelzüngig, dass er uns die eine Hand zur Freundschaft reicht, um uns mit der anderen ein Messer in den Rücken zu jagen?«
»Eli hat ein nobles Herz und gewiss nicht die Absicht, dir und den Deinen zu schaden«, sagte Keir zu Raphael, ehe er Elena ansah. Der konnte man an der Nasenspitze ablesen, wie sehr die Worte des Heilers sie überraschten. Keir musste lächeln. »Elias ist eine Ausnahme unter den Erzengeln: einer, der als Jugendlicher und Jungerwachsener nicht über Macht verfügte.«
Das hörte auch Raphael zum ersten Mal, man sah es ihm deutlich an. »Und weiter? Du wirst doch jetzt nicht aufhören wollen, Keir!«
Der Heiler lachte. »Eli stritt als erfahrener und loyaler General in der Armee eines anderen Erzengels. Am Tag
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