Engelslied
Er beugte sich vor und fing an, die Sachen im Kühlschrank herumzuschieben. »Hey!« Er erstarrte. »Hast du das gesehen?«
Elena riss die Kühlschranktür weiter auf und bückte sich. »Blut.« Gleich mehrere Flaschen, weit hinten im zweiten Regal. Die meisten Vampire tranken lieber frisch aus einer Ader, aber Flaschenblut war wie Fast Food – jeder Stadtvampir hatte einen kleinen Vorrat in seiner Reichweite. »Welcher Lieferant?«
Sollte es sich um Blut von einem der größeren auf Vampire spezialisierten Blutspenderdienste handeln, dann war es alarmierend, dann würde sich die Sache hier sehr schnell zu einer Art Nuklearunfall ausweiten können. Diese Dienste testeten ihr Blut nicht, weil Vampire ja eigentlich nicht krank werden konnten. Stattdessen nahmen sie Spender ins Programm, die von den Blutbanken für Menschen abgelehnt worden waren, und bezahlten sie so gut, dass für einige von ihnen die »Nahrungsblut«-Spenden eine solide Einkommensquelle darstellten. Und in New York war der Bedarf groß, die Stadt war eine Turmstadt mit einer entsprechend hohen Vampirdichte. Es wäre für den Träger der tödlichen Pocken ein Kinderspiel gewesen, sich in die Reihe der Blutspender einzuschleichen.
»Blut und Günstig«,
las Ransom vom Etikett einer Flasche ab. »Das ist die neue Firma unten im Vampirviertel.«
Das Vampirviertel lief tagsüber unter dem Namen Soho, die Mieten dort waren nicht gerade niedrig. Die Firma dürfte also zumindest in bescheidenem Umfang recht erfolgreich sein, dachte Elena.
»Ein relativ kleines Blutcafé, aber mit ständig wachsender Fangemeinde.« Ransom schloss die Kühlschranktür. »Das Blut ist von eher geringer Qualität, sagen meine Vampirkontakte.«
»Geringere Qualität als infiziertes Blut? Wie geht das denn?«
»Den Gerüchten zufolge nehmen sie auch Leute, die anämisch sind oder zu häufig spenden. Vielleicht verwässern sie das Blut auch ein bisschen, aber es ist billig. Dafür gibt es durchaus einen Markt. Dieses Blut liefert keine vollwertige Nahrung, ist aber für eine Zwischenmahlzeit durchaus geeignet. Da dies bei
Blut und günstig
auch das Motto ist, fühlt sich niemand betrogen.«
Elena suchte nach dem Mülleimer, klappte dessen Deckel hoch.
Keine Flaschen.
Dann entdeckte sie nicht weit vom Mülleimer entfernt eine kleine weiße Plastikkiste, auf die jemand mit einem lila Filzstift
Recyceln
geschrieben hatte und bei deren Anblick ihr auch noch das letzte bisschen emotionale Distanz zu den Opfern abhandenkam. »Hier«, sagte sie heiser. »Eine große Flasche.«
»Im Kühlschrank lag ein halb gegessener Kuchen.«
»Ja.« Reste der weißen Glasuraufschrift auf dem Schokoladenguss waren noch zu lesen.
Herzlichen Glückwunsch! h
atte da mal gestanden. »Sie haben gefeiert, sich eine Flasche Blut geteilt, um damit anzustoßen.« Himmel! Diese Leute hatten sterben müssen, damit ein jetzt schon vor Macht nur so stinkender Erzengel noch mehr Macht an sich reißen konnte! Elena wusste kaum, wohin mit ihrer Wut.
»Ich kann meine Kontakte befragen …« Stressfalten bildeten sich um Ransoms Mund. »Nachfragen, ob es außer diesem
Blut und Günstig
noch andere Billigfirmen gibt. Wenn das hilft, herauszufinden, was hier passiert …«
Auch seine hilflose Wut war fast greifbar, aber Elena war nicht bereit, Ransoms Erinnerungen oder seinen Verstand aufs Spiel zu setzen. »Mach das«, sagte sie. Der Unmut, der daraufhin in seinem Gesicht aufblitzte, traf sie wie ein Messerstich. Als sei zwischen ihr und dem Mann, den sie seit ihrem ersten Tag auf der Akademie kannte, eine Mauer hochgegangen. »Ich kümmere mich inzwischen um
Blut und Günstig
.«
Wenig später hatte sie sich von einem mürrisch dreinblickenden Ransom die Adresse gegeben lassen und konnte Illium mitteilen, wohin sie fliegen würde. »Ich möchte, dass du hierbleibst und auf Keir aufpasst«, fügte sie hinzu. Kein halbwegs normaler Erzengel würde sich einen Heiler vornehmen, aber wer garantierte ihr denn, dass sie es hier mit einer vernunftgesteuerten Person zu tun hatten? Und fügte man New York nicht den größten Schaden zu, wenn man die einzige Person eliminierte, die die unheimliche neue Krankheit halbwegs verstand?
»Du kannst nachts nicht allein fliegen«, sagte Illium. »Das Verbot gilt für alle.«
»Mist.« Diese Vorsichtsmaßnahme hatte sie glatt vergessen, mochte sich aber nicht ausgerechnet jetzt über Raphaels Anordnung hinwegsetzen. »Wer könnte denn …« Sie hatte ihre Frage noch
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