Engelslieder
auf irgendeine Art Gewalt angetan?
Oh Gott, er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass man sie schlecht behandelt hatte. Dies war ein Grund dafür gewesen, dass er sich nach der langen, hoffnungslosen Suche an die Theorie von Meeks als ihrem Mörder geklammert hatte. Besser, sich vorzustellen, sie sei tot, als dass sie lebte und leiden musste.
Doch Autumn Sommers hatte diese Möglichkeit ins Spiel gebracht, und ihm wurde klar, wie nebensächlich es war, was Molly während der vergangenen Jahre womöglich durchgemacht hatte. Wenn sie lebte, wollte er sie einfach nur nach Hause holen, zurück an einen Ort, an dem er auf sie aufpassen und die Wunden heilen konnte, die man ihr vielleicht zugefügt hatte.
Vor seinem geistigen Auge formierte sich eine Erinnerung an den letzten Tag, an dem er sie gesehen hatte. Sie hatte in der Tür zu seinem Arbeitszimmer gestanden.
“Daddy! Daddy, kommst du mit mir nach draußen zu meinem Puppenhaus und spielst mit mir?”
Er hatte viel zu tun. Es gab immer so viel Arbeit. Doch für Molly nahm er sich immer Zeit.
“In Ordnung, mein Engel, und was wollen wir jetzt spielen?” Er nahm sie liebevoll auf den Arm und trug sie zur Tür, die in den Garten hinaus führte.
“Lass uns Teetrinken spielen!”, sagte Molly und schlang die Ärmchen um seinen Hals. Eine Fantasie-Teegesellschaft war ihr Lieblingsspiel.
“Okay, aber du musst einschenken.”
Molly kicherte und legte den Kopf auf seine Schulter.
Bei diesen Bildern schloss Ben die Augen. In den ersten Jahren nach dem Verschwinden seiner Tochter hatte er den Tag wieder und wieder Revue passieren lassen. In den letzten Jahren jedoch hatte er gelernt, die Erinnerung auszublenden. Es tat einfach zu sehr weh.
Jetzt waren die Bilder wegen Autumn Sommers wieder da. Ben ignorierte das Brennen hinter den Augen, lehnte sich im Stuhl zurück und kämpfte gegen den Kummer an.
7. KAPITEL
A m Dienstag hörte Autumn nichts von Ben. Auch am Mittwoch rief er nicht an. Am Donnerstagabend hatte sie sich damit abgefunden. Wenn er sie bis Freitagnachmittag nicht anriefe, würde sie dem Zorn seiner Sekretärin die Stirn bieten, zu seinem Büro hinaufgehen und sich den Weg hineinbahnen.
Autumn seufzte, als sie die Tür zur Kletterhalle aufstieß. Zumindest hatte sie seit ein paar Tagen nicht mehr geträumt. Außer Montag, als sie Ben zum letzten Mal gesehen hatte.
Vier ihrer Schüler waren bereits da, und als sie ihre Aufzeichnungen auf den Tisch legte, kamen die restlichen zwei herein. Sie wollte gerade mit der nächsten Kurslektion beginnen, als eine große, männliche Gestalt durch die Tür kam, die khakifarbene Shorts trug und ein dunkelgrünes T-Shirt mit dem Bild eines durch schaumig-weißes Wasser fahrenden Kajaks, unter dem in Großbuchstaben “Coulonge Gorge” stand.
Autumn bemühte sich, Ben McKenzies breite Schultern, den kräftigen Bizeps und die durchtrainierten, braungebrannten Beine nicht anzuschmachten. Er trug Turnschuhe, hatte jedoch gummibesohlte Kletterschuhe in der Hand.
Als er auf sie zukam, sprach Autumn ihn an. “Mr. McKenzie. Ich hatte gehofft, von Ihnen zu hören. Nur leider wollen wir gerade mit der Stunde beginnen. Vielleicht können wir danach …”
“Ich habe mich an der Anmeldung für Ihren Kurs eingetragen. Das von Ihnen empfohlene Buch habe ich mir auch zugelegt und die ersten Kapitel durchgearbeitet … eben das, was ich bisher verpasst habe. Von heute an werde ich an den Stunden teilnehmen.”
In ihrem Kopf drehte sich alles. Er hatte sich die ganze Woche über nicht gemeldet, und jetzt tauchte er einfach so auf? “Könnte ich Sie einen Moment unter vier Augen sprechen?”
“Sicher.”
Er warf die Schuhe auf den Boden und folgte ihr vor die Tür.
Kaum war sie zugefallen, wirbelte Autumn zu ihm herum. “Okay, Mr. McKenzie, was läuft hier? Ich warte seit Tagen darauf, dass Sie sich melden, aber Sie rufen nicht an. Und jetzt wollen Sie plötzlich an meinem Kurs teilnehmen? Ich wüsste wirklich gern, warum.”
Ben zuckte die breiten Schultern. “Ich arbeite in der Sportbranche. Ich mag Wandern, Kanu- und Kajakfahren – eigentlich alles. Wir haben das beste Kletterzubehör in unserem Sortiment, das es derzeit auf dem Markt gibt, und ich habe den Sport noch nie ausprobiert. Ich fand, das ist eine gute Gelegenheit.”
Sie stemmte die Hände in die Hüften. “Gut. Und jetzt verraten Sie mir bitte den wahren Grund für Ihr Kommen.”
Ben sah ihr fest in die Augen. “Wollen Sie das wirklich
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