Engelslieder
von Neuem durchsucht wurde. Erst dann durfte sie gehen.
Als sie die Eingangstür des Hauptgebäudes aufstieß und in die Sonne hinaustrat, sog sie die frische Oregon-Luft tief ein. Obgleich niemand sie berührt hatte, fühlte sie sich, als müsste sie erst mal heiß und ausgiebig duschen. Sobald sie bei ihrer Freundin Sandy ankäme, würde sie ein Bad nehmen und sich frische Kleidung anziehen.
Es war albern. Die Einrichtung war sauber und gepflegt, und doch fühlte sie sich schmutzig. Sie hatte eine bedrückende Erfahrung gemacht, aber die Reise hatte sich gelohnt.
Autumn war überzeugter denn je, dass Molly McKenzie noch lebte und sie um Hilfe bat.
Sie musste Ben treffen. Dieses Mal könnte Autumn ihm etwas erzählen, das ihn womöglich aufhorchen ließ. Zumindest hoffte sie das.
Als sie am Montagabend nach der Arbeit im Coffee Bean Café gegenüber vom McKenzie-Gebäude saß, fühlte sie sich wie die Stalkerin, für die er sie hielt. Da sie keine Ahnung hatte, wann er das Büro verließ, hatte sie sich um halb sechs in Lauerstellung begeben, fest entschlossen – falls nötig –, bis Mitternacht zu warten.
Glücklicherweise passierte Ben die gläserne Eingangstür bereits um halb sieben. Autumn wartete, bis er die Straßenecke erreicht hatte, schlüpfte dann aus dem Café und folgte ihm die Straße hinunter, sorgfältig darauf bedacht, Abstand zu halten und sich im Schatten zu bewegen. Ihr schauderte bei der Vorstellung, wie McKenzie reagieren würde, sobald er ihre Gegenwart bemerkte.
Sie hatte keine Ahnung, wohin er gehen mochte, aber sie hoffte, eine Stelle zu finden, an der sie ihm den Weg abschneiden und ihn zum Zuhören bringen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Sie blieb ihm auf den Fersen, jedoch ohne zu dicht aufzuschließen.
Wohin er wohl wollte? Ganz egal, was sein Ziel war, er ging mit einer für ihn offenbar typischen Entschlossenheit, die langen Beine trugen ihn rasch den Gehweg entlang. Einige Blocks weiter verschwand er in einem kleinen italienischen Restaurant namens Luigi’s. Autumn war selbst schon zweimal dort gewesen und hatte das Essen und die ruhige Atmosphäre sehr genossen.
Sie trug eine schwarze lange Hose und ein schwarzes Neckholder-Top, um sich gut in der Dunkelheit verstecken zu können. Die Sachen waren fein genug, um bei Luigi’s nicht unangenehm aufzufallen. Sie betrat das Lokal, blickte sich vorsichtig um und erspähte ihn schließlich in einem ruhigen Separee am Ende des Raums.
Er war allein. Vielleicht wartete er auf jemanden. McKenzie würde ihr an einem netten Ort wie diesem wohl keine Szene machen. Das war der perfekte Moment für eine Annährung.
Autumn durchquerte den Raum und setzte sich neben ihn ins Separee.
“Schreien Sie nicht, und werden Sie nicht wütend. Was ich Ihnen zu sagen habe, dauert nur eine Minute.”
Sein Unterkiefer klappte herunter. Er sah aus, als würde ihm jeden Moment der Kragen platzen. “Raus hier, oder ich lasse Sie rauswerfen.”
“Ich habe Gerald Meeks besucht. Ich habe mit ihm gesprochen, und er erzählte mir, dass er Molly nicht umgebracht habe. Ich glaube, er wäre bereit, Ihnen dasselbe zu sagen, wenn Sie hinfahren und ihn selbst fragen würden.”
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. “Sie waren im Gefängnis, um Gerald Meeks aufzusuchen?”
“Meeks wurde wegen guter Führung ins Bundesgefängnis in Sheridan, Oregon verlegt. Ich bin am Samstag runtergefahren.”
Er lehnte sich zurück, sein Gesicht war wie eine unlesbare Maske. “Ich habe einen Privatdetektiv engagiert, damit er Sie ausspioniert. Sie sind tatsächlich Lehrerin. Und Sie haben sogar einen sehr guten Ruf an Ihrer Schule.”
“Ich bin nicht verrückt. Und ich schwöre, ich bin nicht hinter Ihrem Geld her.”
“Aber was wollen Sie dann?”
“Ich glaube, dass Ihre Tochter Molly noch am Leben ist. Ich habe sie in meinen Träumen gesehen. Ich weiß nicht, wo sie ist, aber ich glaube, dass sie mich um Hilfe bittet.”
“Warum Sie? Und falls sie wirklich noch lebt, wieso hat sie dann bis jetzt gewartet?”
“Das weiß ich noch nicht. Ich denke, es hängt mit Ihnen zusammen … mit dem Zeitpunkt, an dem Sie mir im Fitnessclub aufgefallen sind. Vermutlich würde ich das alles selbst nicht glauben, wenn …”
“Wenn was?”
“So etwas ist mir schon einmal passiert. Ich träumte von meinen beiden besten Freunden – derselbe Traum, immer wieder. In dem Traum kamen Jeff, Jolie und ein dritter Jugendlicher bei einem Autounfall ums Leben. Ich war
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