Engelslieder
damals erst fünfzehn. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es tatsächlich geschehen würde, und ich dachte, dass niemand mir glauben würde, wenn ich etwas sagte; dass mich alle nur auslachen würden.”
“Was ist geschehen?”
“Sie fuhren zu einer Party, und ihr Auto kam von der Straße ab und prallte gegen einen Baum, genauso wie in meinem Traum. Alle drei starben.”
Eine lange Pause folgte.
“Das tut mir leid”, sagte Ben.
“Ich kann es diesmal nicht ignorieren. Und ich will es auch nicht. In meinem Traum sah ich, wie Ihre Tochter an jenem Tag aus Ihrem Vorgarten gelockt wurde, aber der Mann, den ich sah, war nicht Gerald Meeks. Ich sah Molly, wie sie heute aussieht, sechs Jahre älter, ein süßes junges Mädchen, fast ein Teenager. Sie ist es, Ben – dasselbe hellblonde Haar, dieselben großen blauen Augen. Sie lebt. Ich weiß es.”
Er schluckte und schaute weg. Als er sie wieder ansah, jagte ihr der Schmerz in seinen Augen einen Stich durch die Brust.
“Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie schwer das für mich ist? Können Sie sich auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr ich nach Mollys Entführung gelitten habe? Wenn ich Ihnen glaube, wird all der Schmerz wieder hochkommen, all der schreckliche Kummer. Und falls Sie falsch liegen sollten oder auch richtig, ich Molly aber nicht finde … Ich glaube, ich würde diesen Schmerz nicht noch einmal überstehen.”
Autumn fehlten die Worte. Sie wusste, was sie von ihm verlangte, wusste, welch furchtbaren Preis Ben McKenzie zahlen würde, wenn sie sich irrte. Aber sie musste auch an das vermisste junge Mädchen denken. Ein Kind, das sie verzweifelt um Hilfe zu bitten schien.
“Wir müssen es versuchen. Beim letzten Mal habe ich drei Freunde verloren. Das hat auch sehr wehgetan, Ben.”
“Wenn Sie sich irren, dann schwöre ich bei Gott …”
“Ich könnte mich irren, das will ich gar nicht leugnen. So etwas ist mir bisher auch erst einmal passiert. Aber die Träume sind so deutlich, so real. Ich sehe ihr Gesicht – dasselbe Gesicht, das ich in den Zeitungsartikeln gesehen habe. Ich höre den kleinen Jungen, Robbie, der ihren Namen ruft.”
Sein Kopf wirbelte zu ihr herum. “Robbie? Robbie Hines?”
“Keine Ahnung, wie er mit Nachnamen heißt. Sie haben an jenem Tag zusammen im Garten gespielt.”
Er ballte die Hand zu einer Faust, damit sie aufhörte zu zittern. “Robbie war damals bei uns. Das stand nicht in der Zeitung.”
“Rote Haare und Sommersprossen?”
“Das ist er.”
“Sie müssen mir helfen, Ben. Sie haben keine andere Wahl.”
Er atmete tief ein und langsam wieder aus. “Ich muss eine Nacht darüber schlafen. Pete hat bei seinen Recherchen Ihre Adresse und Telefonnummer herausgefunden. Sobald ich wieder klar denken kann, rufe ich Sie an.”
Autumn lächelte ihn zaghaft an, während sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte. “Danke.”
Sie stand gerade auf, als eine exotische Frau mit olivfarbenem Teint auf den Tisch zukam. Sie war groß und schlank und hatte seidig weiche Haut. Es war die schönste Frau, der Autumn je persönlich begegnet war.
“Entschuldige die Verspätung,
querido
, aber die Limousine steckte im Verkehr fest.” Ihre beinahe schwarzen Augen nahmen Autumn ins Visier. “Aber wie ich sehe, hast du dir die Wartezeit ja nett vertrieben.”
“Autumn Sommers, das ist Delores Delgato.”
“Freut mich”, sagte Autumn. “Ich wollte Ihren Abend nicht stören, Ms. Delgato. Ich musste mit Mr. McKenzie nur in einer persönlichen Angelegenheit sprechen.”
“Schon gut,
chica
. Wenn nicht Sie, wäre es eine andere gewesen.”
Ben zog die Augenbrauen hoch.
“Ich freue mich auf Ihren Anruf”, verabschiedete Autumn sich von ihm. Sie fühlte sich unbehaglich und wollte nur noch weg.
Ben nickte bloß. Als Autumn sich zum Gehen wandte, half er Delores Delgato aus ihrer burgunderroten Kaschmirjacke, und sie nahm neben ihm im Separee Platz.
Autumn steuerte durch die Tische auf die Tür zu und trat in die frische Seattler Abendluft hinaus. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie hatte Ben McKenzie dazu gebracht, ihr zuzuhören, und vielleicht fing er sogar an, ihr wenigstens ein bisschen zu glauben.
Von jetzt an, dachte sie, ist er nicht mehr in der Lage, sich einfach abzuwenden. Molly war seine Tochter. Der Schmerz, den Autumn in seinen Augen gesehen hatte, bewies, wie sehr er sie liebte. Wenn Molly lebte, würde er versuchen müssen, sie zu finden.
Er hatte gar keine andere Wahl.
Irgendwie
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