Engelslieder
überstand Ben den Abend mit Delores, der sich ewig hinzuziehen schien. In Gedanken war er bei Autumn Sommers, bei Molly und bei der Frage, ob er wirklich wagen sollte, daran zu glauben, dass sie womöglich noch am Leben war.
Delores machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn gern mit in ihre Suite im Fairmont Olympic Hotel nehmen wollte, Ben allerdings lehnte ab. Irgendwann während der vergangenen Tage hatte der Sex mit dem exotischen Model seinen Reiz verloren. Wie die meisten Frauen, mit denen er sich umgab, brauchte auch Delores viel Aufmerksamkeit. Doch momentan verlangten wichtigere Dinge nach seiner Aufmerksamkeit.
Und so ließ er eine vor Wut kochende Delores in der prachtvollen Lobby des Fünfsternehotels zurück und ging die wenigen Blocks bis zu seinem Penthouse. Der Anrufbeantworter in seinem Büro blinkte. Daneben wartete ein Stapel Papier im Faxgerät.
Er spielte die Nachrichten ab, unter denen sich eine von Pete Rossi befand, die das Fax erklärte: weitere Informationen, die Pete über Autumn Sommers gesammelt hatte. Ben nahm die Seiten aus dem Gerät, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich in den butterweichen Lederstuhl.
Er blätterte durch Petes Bericht, dessen zentrale Punkte der Detektiv auf dem AB kurz zusammengefasst hatte.
Autumn Kathleen Sommers. Geboren am 3. Juni 1980. Tochter von Kathleen L. und Maxwell M. Sommers.
Kathleen Sommers war 1993 gestorben, als Autumn dreizehn war. Max Sommers, ein Feuerwehrmann, hatte sie großgezogen. Er war inzwischen in Rente, was ihm mehr Zeit ließ, seiner Leidenschaft, dem Klettern, nachzugehen. Max hatte bei seiner Tochter das Interesse an diesem Sport geweckt. Mit siebenundzwanzig war sie geprüftes Mitglied der Amerikanischen Bergführervereinigung und eine offensichtlich hochbegabte Kletterin.
Laut dem Bericht hatte Autumn die Universität von Seattle besucht – teils durch Stipendien, teils durch ein Darlehen der Uni finanziert –, als eine der Jahrgangsbesten abgeschlossen und im Anschluss daran weiterstudiert, um die Lehrerlizenz zu erhalten.
In einem Nebenabsatz wurde ihre College-Beziehung mit einem Typen namens Steven Elliot erwähnt sowie kurze Affären mit zwei anderen Männern, die beide schon weiter zurücklagen. Pete arbeitete außerordentlich gründlich.
Ben musste fast lächeln. Nach dem Bericht zu urteilen, hatte Autumn nicht viel mit Männern gehabt. Er glaubte nicht eine Sekunde, dass es ihr an Angeboten gemangelt hatte.
Autumn Sommers hatte irgendetwas an sich, das das Interesse eines Mannes auf sich zog. Sie war nicht gerade eine kurvige Blondine mit Filmstar-Gesicht und auch keine exotische Brünette mit olivfarbener Haut, aber die seidigen rostbraunen Locken, die grünen Katzenaugen und der straffe, zierliche Körper machten diese Frau auf andere Weise verdammt sexy.
Ben verdrängte das ungewollte Verlangen, das bei diesem Gedanken in ihm hochstieg. Schon als sie vor Tagen in seinem Büro aufgetaucht war, hatte er eine körperliche Anziehung verspürt, die ihn selbst überrascht hatte. Er hatte sich fest am Riemen gerissen, da er sicher gewesen war, eine Verrückte vor sich zu haben. Aber als er an diesem Abend den Tränenschimmer in ihren Augen gesehen hatte, war das Gefühl wieder da gewesen.
Autumn war anders als die Frauen, mit denen er sich sonst traf. Sie schien intensiver zu leben und lebendiger zu sein. Wenn er ehrlich war, hätte er unter anderen Umständen nicht das Geringste dagegen gehabt, mit Autumn Sommers ins Bett zu steigen.
Aber das würde nicht geschehen. Obgleich Petes Bericht nichts Außergewöhnliches aufwies – weder in ihrer Vergangenheit noch in ihrer Gegenwart –, bedeutete das noch lange nicht, dass er ihr vertrauen konnte. Sie konnte der lieblichste Scharlatan der Welt sein oder einfach eine Irre, die tatsächlich daran glaubte, was sie ihm erzählte.
Für den nächsten Morgen machte er sich die Notiz, Pete anzurufen. Er sollte überprüfen, ob Autumn tatsächlich einen Ausflug zum Gefängnis in Sheridan gemacht und mit Meeks gesprochen hatte. Falls es sich bestätigte, würde er Pete bitten, ebenfalls hinzufahren, um Meeks’ angebliche Aussage über Molly zu bestätigen.
Der Name schlich durch seinen Kopf wie seit Jahren nicht mehr. Was, wenn Molly tatsächlich lebte? Am ersten August würde sie zwölf werden.
Wenn
sie noch lebte – welch schreckliche Dinge hatte sie in den Jahren seit ihrer Entführung erleiden müssen? War sie missbraucht worden? Sexuell belästigt? Hatte man ihr
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