Engelslieder
vertrauen, nur weil sie harmlos aussieht.”
Ben warf ihr einen vielsagenden Blick zu. “Das ist allerdings wahr.”
Autumns Gesicht lief tiefrot an, doch sie zwang sich weiterzusprechen. “Der Mann gab Molly diesen kleinen schwarzweißen Hund auf den Arm. Er sagte, er hieße Cuffy und dass er noch einen Welpen namens Nicky habe. Aber Nicky sei ihm weggelaufen. Er fragte Molly, ob sie ihm helfen würde, ihn zu suchen.”
Bens Kiefermuskulatur wurde hart wie Granit, und aus seinem Blick schwand jegliche Wärme. “Ich schwöre dir: Wenn du das alles nur erfindest …”
“Du weißt doch, dass einiges davon stimmt. Sie spielten im Vorgarten mit dem Ball. Gut, das habe ich später in der Zeitung gelesen. Aber du hast mir bestätigt, dass der kleine Junge Robbie hieß, und das stand nicht in der Zeitung. Du hast mir selbst gesagt, dass er an jenem Tag bei euch war.”
Ben nahm einen Schluck Wein. Vermutlich, um nicht aus der Fassung zu geraten, dachte Autumn. Die Kellnerin brachte die Salate, doch keiner von beiden begann zu essen.
“Erzähl mir von dem zweiten Traum, in dem Molly älter ist.”
Um Zeit zu schinden, trank Autumn von ihrem Wein und stellte dann das Glas zurück auf den Tisch. “Zuerst habe ich sie nicht erkannt. Sie war mit zwei Frauen zusammen, beide hellhäutig und blond. Sie arbeiteten in der Küche und bereiteten das Essen … Abendessen, glaube ich. Sie waren alle sehr ernst. Keine lachte. Das hat mich sogar im Schlaf gestört.”
“Weiter.”
“Die Frauen sprachen miteinander, aber ich konnte die Worte nicht verstehen. So war es beim ersten Mal, aber in den folgenden Nächten wurde der Traum immer klarer. Wenn ich ihn weiterträume, weiß ich vielleicht bald, was sie sagen.”
Er nahm die Gabel in die Hand, nahm jedoch keinen Bissen. Sein finsterer Blick ruhte unverwandt auf ihrem Gesicht. “Woher wusstest du, dass das Mädchen in dem zweiten Traum Molly war?”
“Wie gesagt, anfangs habe ich sie nicht erkannt. Aber als ich sie von vorne gesehen habe, war ich mir absolut sicher. Sie hatte dieselben großen blauen Augen, und ihre Augenbrauen zeichneten einen niedlichen, femininen Bogen. Sie hat deine Nase – kleiner natürlich. Ich würde gern ein Foto von deiner Frau sehen …”
“Exfrau”, korrigierte er sie.
“Natürlich, also, ich würde mich gern davon überzeugen, ob ich ihre Gesichtszüge in Molly erkennen kann.”
Er beugte sich zu ihr hinüber. “Das ist alles? Mehr hast du nicht gesehen? Drei Frauen, die in einer Küche arbeiten?”
Sie wollte es ihm nicht sagen; das würde schmerzhaft werden. Aber wenn er ihr eine Chance geben sollte, musste sie ihm die ganze Wahrheit erzählen.
“Da war noch etwas … etwas, das mich überzeugt hat, nach ihr zu suchen, sie zu finden.”
“Erzähl’s mir. Auch wenn ich weiß, dass du es nicht willst.”
Sie atmete langsam aus. “In dem Traum … Einen Moment lang sieht Molly mich direkt an. In ihrem Blick liegt so viel Schmerz … so viel Verzweiflung. Es ist, als könnte ich direkt in ihre Seele schauen, als würde sie mich um Hilfe anflehen.”
Ben saß einfach nur da. Er fühlte sich, als läge ein fünfhundert Kilo schwerer Felsbrocken auf seiner Brust. Was, wenn Autumn Sommers die Wahrheit sagte? Wenn er die Augen schloss, konnte er Mollys große blaue Augen sehen, die unter hübschen, leicht geschwungenen Augenbrauen lagen und ihn ansahen. Wenn Molly lebte – wurde sie geschlagen? Missbraucht? Oder war sie einfach verzweifelt und unglücklich, weil sie an einem Ort lebte, an den sie nicht gehörte – von Fremden aufgezogen, die nicht ihre Familie waren und sie nicht aufrichtig liebten?
Wenn sie noch lebte, erinnerte sie sich dann noch an ihre richtigen Eltern? Alt genug war sie, aber dennoch – über die Jahre war die Erinnerung womöglich immer mehr verblasst.
Ben schob seinen Salat beiseite, ohne einen Bissen davon zu nehmen. “Ich werde Folgendes tun: Gleich morgen spreche ich mit Pete Rossi, dem Privatdetektiv, der dich durchleuchten sollte.”
Vor zwei Tagen hatte Pete ihn angerufen, um ihm die Ergebnisse seiner Nachforschungen zu Autumn und Gerald Meeks mitzuteilen. Laut Pete hatte Autumn tatsächlich im Bundesgefängnis in Sheridan mit Meeks gesprochen, allerdings konnte er Meeks angebliche Aussage nicht bestätigen. Der Insasse hatte ihm die Besuchserlaubnis verweigert. Wahrscheinlich hätte er ihm ohnehin nichts erzählt.
“Ich werde Rossi bitten, etwas herumzuwühlen. Vielleicht deckt er etwas
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