Engelslust
blickte sich um. Vor ihnen lag ein kristallklarer Gebirgssee, um den sich die schneebedeckten Gipfel der Karpaten türmten. Hier wäre ein wunderschöner Ort gewesen, um Urlaub zu machen, wenn die Umstände andere wären. Früher war Magnus als Ausgleich zu seinem Job viel in der Natur unterwegs gewesen, am liebsten beim Jagen und Fischen, aber das hatte vor zwei Jahren abrupt geendet, als ein grausames Ereignis sein ganzes Leben zerstört hatte. Und daran waren diejenigen schuld, für die er sich jahrelang aufgearbeitet hatte …
Amabila stand mit gesenktem Kopf und verschränkten Fingern vor ihm. Magnus konnte ihr Gesicht wegen der Kapuze nicht sehen, worüber er froh war, denn seitdem sie an seiner Seite war, fiel es ihm immer schwerer, die Engel zu hassen. Manipulierte sie ihn etwa? Magnus wusste, dass diese Geschöpfe alle möglichen Fähigkeiten besitzen konnten, aber da Amabila unter seinem Bann stand, müsste dieser ihre besonderen Eigenschaften blockieren, sofern sie überhaupt welche besaß.
Die beiden marschierten wenige Meter über Gras und Geröll, bis sie einen Höhleneingang bemerkten. Das Loch war offensichtlich vor vielen Jahrhunderten künstlich vergrößert worden, aber ansonsten schien seit der ganzen Zeit niemand mehr hier gewesen zu sein. Büsche überwucherten den Eingang. Eine Handbewegung von Magnus genügte, um sie in Flammen aufgehen zu lassen, sodass sie zu Asche zerfielen.
Er ließ Amabila vorangehen, da sie im Dunklen besser sah als er. Magnus war zwar ein mächtiger Zauberer, aber im Grunde nur ein gewöhnlicher Mensch. Er besaß die Fähigkeit, Licht zu machen, doch er wollte sein Eintreffen nicht ankündigen, falls bereits jemand auf sie wartete.
Amabila streckte ihm die Hand hin und er ergriff sie zögerlich. Dann zogen ihre kleinen Finger ihn in die Finsternis. Schweigend gingen sie eine Weile – nur das Knirschen von Kies war unter seinen Sohlen zu hören –, bis plötzlich ein seltsames Zwitschern ertönte. Die ganze Höhle schien in Aufruhr zu sein. Magnus erkannte gleich, was da auf sie zukam: Er duckte sich, drückte Amabila mit seinem Körper gegen die Felswand und breitete schützend den Mantel über sie aus. Während der Schwarm Fledermäuse über sie hinwegrauschte, kuschelte Amabila sich an seine Brust und legte ihre Arme um ihn. Auch als die Tiere die Höhle längst verlassen hatten, standen sie beide noch so da.
Magnus hörte Amabila atmen und spürte den warmen Hauch an seinem Hals. Da durch die Dunkelheit seine anderen Sinne geschärft waren, drang der blumige Duft ihres Haars intensiver in seine Nase. Unbewusst schmiegte er sich mehr an sie und spürte, wie sein Schwanz auf diese intime Nähe reagierte.
»Herr?«, flüsterte sie an seinem Hals, als ob sie genau wüsste, was in ihm vorging. Dabei streiften ihre Lippen seine Haut.
Magnus war versucht, seine Hände unter ihr Cape wandern zu lassen, um ihre Haut zu streicheln. Zu wissen, dass sie darunter nackt war, ließ ihn sofort hart werden.
Verwirrt richtete er sich auf und trat einen Schritt zurück. Warum hatte er sie beschützt?
Es war mehr ein Reflex gewesen , redete er sich ein, als sie tiefer in die Höhle gingen, seine Hand auf ihrer Schulter. Außerdem brauchte Magnus sein Engelchen noch …
»Wir sind da«, erklang ihre reine Stimme in der Dunkelheit.
Magnus schob Amabila hinter sich, erhob seine Hand und rief »Lumo!« Sofort entzündeten sich wie von Geisterhand uralte Fackeln, die an den Felswänden hingen. Sie rußten stark und der Rauch kratzte in Magnus ’ Lunge.
Hinter ihm sog Amabila die Luft ein. Ein Bild des Grauens lag vor ihnen. In dem kuppelartigen Raum türmten sich Skelette – von manchen waren nur noch die Schädel und Hüftknochen übrig. Das kühle Klima der Karpaten hatte den Verfall verlangsamt. Es sollte ein Mahnmal sein, ein Massengrab, geschaffen von einem mächtigen Vampirfürsten, der im Frühmittelalter in dem größten Vampirkrieg der Geschichte gekämpft hatte. Die Blutsauger hatten sich damals beinahe gegenseitig ausgelöscht. So stand es in dem Buch, das Merlin persönlich geschrieben hatte und das seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Thorne war. Nur durch reinen Zufall hatte Magnus herausgefunden, wofür die »Rezepte« darin gut waren. Denn erst als Magnus den Kelch gesehen hatte, war ihm bewusst geworden, welcher Schatz sich seit Generationen in ihrem Familienbesitz befand …
»Lass uns schnell machen«, sagte er und holte den kleinen kristallenen Kelch
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